WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Zenica, Bosnien-Herzegowina

Zenica, Bosnien-Herzegowina

Ena Čaušević, 21, Studentin und Radioredaktorin

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Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Ich sehe eine geschäftige Stadt und “verlassene” Berge. Ich wünschte, ich könnte eine ganze Woche ohne Telefon in einer dieser Berg-Lodges verbringen. 

Was hast du heute gefrühstückt?
Wenn ich zuhause bin, ist mein Frühstück immer ähnlich: Sandwiches und Joghurt. 

Welches ist dein wichtigster Gegenstand geworden?
Mein Laptop, er ist heute noch wichtiger, als er es vorher schon war. 

Was vermisst du am meisten?
Mich mit meiner Familie zu treffen - ohne Videocalls. Und mit Freunden Road Trips zu unternehmen. Ganz grundsätzlich vermisse ich das Leben, ohne mir darüber Sorgen machen zu müssen, dass ich mich oder meine Familie gefährde, weil ich das Virus nachhause bringen könnte.

Blick aus Enas Fenster.

Blick aus Enas Fenster.

Die Berge, die Ena beschreibt, falten sich rund um Zenica. Die Stadt, bekannt für ihre Stahlindustrie, liegt rund eine Autostunde nord-westlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Sie ist mit etwa 115000 Einwohnern die viertgrösste Stadt des Landes.

Kurz nach der Stadtgrenze am Fluss Bosna begrüsst einen das Lamela, ein gewaltiges Hochhaus, das im ehemaligen Jugoslawien lange Zeit als das höchste Gebäude galt. Etwas weiter entfernt, hinter dem Zentrum, steht das grösste Gefängnis unter Tito, auch heute noch das grösste im Land. Dort sassen einst der Dichter Ivo Andric sowie Gavrilo Princip, Kaiser Franz Ferdinands Mörder, und seine Komplizen ein. Gut sichtbar im Stadtzentrum thront das neue Theater, wegen seiner Form liebevoll “die grösste Ćevabdžinica des Landes” genannt. Ćevapi sind die traditionellen Würstchen, Ćevabdžinica die Würstchenbude mit dem charakteristisch grossen rechteckigen Kamin. 

Das Lamela in Zenica galt im ehemaligen Jugoslawien lange Zeit als das höchste Hochhaus des Landes. Bild: Aleksandra Hiltmann

Das Lamela in Zenica galt im ehemaligen Jugoslawien lange Zeit als das höchste Hochhaus des Landes.
Bild: Aleksandra Hiltmann

Ena wurde in Zenica geboren, lebt und studiert dort Englische Sprache und Literatur.  Nebenbei arbeitet sie als Redaktorin beim lokalen Community-Radio Active Zenica. “Active Zenica” wird von Jugendlichen und Freiwilligen betrieben. Hinter der Radiostation steht die Kinderrechtsorganisation “Naša Dieca Zenica”, auf Deutsch, “Unsere Kinder Zenica”, bei der auch Ena Mitglied ist. Der Krieg in den 90er-Jahren habe es nötig gemacht, die Rechte der Jüngsten besonders zu schützen, schreibt die NGO. Seither ist “Naša Dieca Zenica” stetig gewachsen, organisiert Kinder- und Jugendparlamente, Protestmärsche, Debattierclubs, Ausflüge in Friedenscamps - unter anderem ins Kinderdorf Pestalozzi in Trogen in der Schweiz - und ermutigt Jugendliche, auch über das Radio für ihre Anliegen einzutreten, ihre Stimme zu nutzen. 

Zurzeit steht Ena selten als Moderatorin hinter dem Mikrofon. Hingegen wirkt sie drei Mal pro Woche als Redaktorin mit, sucht nach neuen Themen und bereitet diese auf. Zusammen mit den anderen Freiwilligen spürt sie Geschichten aus der Community auf - oft inspirieren sie Menschen aus ihrem Umfeld, lokale Events, Diskussionen auf Social Media. 

Das Logo des Radios Active Zenica. Bild: Aleksandra Hiltmann

Das Logo des Radios Active Zenica.
Bild: Aleksandra Hiltmann

Vor kurzem sendeten sie über die Schwierigkeiten von Migrantinnen und Migranten in Bosnien. Die Frauen und Männer kommen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan. Jetzt, in Zenica, haben sie keinen Zugang zu Toiletten, keine Unterkunft, keine regelmässigen Mahlzeiten. Die Stimmung zwischen Geflüchteten und Einheimischen sei angespannt, sagt Ena.
Die jungen Radiomacherinnen sprechen aber auch über häusliche und geschlechtersbasierte Gewalt und informieren darüber, an wen sich Überlebende wenden können, um Unterstützung zu bekommen, und wo sie die Gewaltverbrechen melden. Darüber hinaus thematisieren sie Vorurteile gegenüber Personen, die ein Kopftuch tragen, oder gegenüber jenen, die übergewichtig sind. Eine Gruppe Freiwilliger hat sich zudem mit einem interreligiösen Rat der Stadt zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie über das Radio Frieden fördern, in der Sendung “Da svi budu (za)jedno”. Der Titel der Sendung liesse sich auf drei verschiedene Arten übersetzen, so Ena. In der Essenz bedeute er aber: «Alle gemeinsam». 

Die jungen Radiomacherinnen thematisieren auch Vorurteile gegenüber Personen, die ein Kopftuch tragen, oder gegenüber jenen, die übergewichtig sind.
Das Leben damals, vor der Pandemie: Ena auf einem Roadtrip.

Das Leben damals, vor der Pandemie: Ena auf einem Roadtrip.

Im Frühjahr 2020 verhängte die Regierung strenge temporäre Anti-Corona-Massnahmen - unter anderem nächtliche Sperrstunden für Einheimische und Einreiseverbote für Ausländer. Zwischen September und November 2020 stiegen die Covid-19-Infektionen in Bosnien wieder stark an, waren es damals erst etwas über 200 Fälle pro Tag gewesen, verzeichnete das Land bald 1500. Aktuell stecken sich täglich rund 400 Personen an. Im europäischen Vergleich testet Bosnien wenig.

Wie erlebst du den Alltag in Zenica, jetzt, während der Pandemie?
Hier gibt es wenige Covid-Fälle, verglichen mit anderen Städten im Land. Zu Beginn der Pandemie führten meine Radio-Kolleginnen und ich in Zenica eine Umfrage durch. Die meisten Leute antworteten, dass sie keine Angst vor dem Virus hätten und sich und andere mit Masken und Desinfektionsmittel zu schützen versuchten. Zurzeit nehme ich die Leute als noch relaxter wahr. Vielleicht, weil wir bereits seit bald einem Jahr mit dem Virus leben, und wir es als die neue Normalität wahrnehmen. Alle haben sich angepasst. Nun leben wir weiter, so gut es geht und warten, bis der Tag kommt, an dem die Zahl der Covid-infizierten Personen auf null gesunken ist.

Wie hat sich dein Leben seit Beginn der Pandemie verändert?
Vor der Pandemie besuchte ich Vorlesungen, ging zur Arbeit, verbrachte viel Zeit mit Freunden und meiner Familie. An den Wochenenden gingen wir aus, sorgenfrei. Dann, während des Lockdowns sahen meine Tage etwa so aus: Ich blieb lange im Bett liegen, verfolgte die Vorlesungen online. Später stand ich auf, setzte mich an den Schreibtisch, beantwortete E-Mails oder nahm an einem virtuellen Meeting teil. Am Ende des Tages legte ich mich zurück ins Bett, um mit meinen Freundinnen zu videochatten.

Wie war das für dich?
Sehr stressig, und das ist es immer noch. Noch immer können wir nicht sorgenfrei nach draussen. Unsere Schulen sind teilweise noch immer geschlossen, grössere Versammlungen, Konzerte etwa, sind verboten. Mein Leben spielt sich hauptsächlich online ab. Aber ich bin dankbar, dass ich nicht viel verloren habe, nicht wie andere in meiner Stadt und meinem Land. 

Blick aus Enas Fenster.  “Mein Leben spielt sich hauptsächlich online ab.  Aber ich bin dankbar, dass ich nicht viel verloren habe, nicht wie andere in meiner Stadt und meinem Land.”

Blick aus Enas Fenster. “Mein Leben spielt sich hauptsächlich online ab. Aber ich bin dankbar, dass ich nicht viel verloren habe, nicht wie andere in meiner Stadt und meinem Land.”

Wie hat die Pandemie das Leben in Bosnien verändert?
Das Land kämpft mit Arbeitslosigkeit, tiefen Löhnen, hohen Steuern und einem Brain Drain - die Jungen wollen weg. All das existierte bereits vor der Pandemie. Doch nach dem Lockdown im Frühling verloren noch mehr Leute ihre Arbeit, nirgendwo war mehr Geld, es gab kein Einkommen mehr. Allein von April bis Juni stieg die Abeitslosenquote über fünf Prozent, um 20000 Personen. Besonders stark betroffen sind die Gastronomie und der Handel, vor allem Angestellte kleiner und mittlerer Betriebe. Denn da die Leute zuhause bleiben mussten, kauften sie nur das Nötigste. Ich denke, dass das die schlimmsten Konsequenzen der Pandemie sind. Zudem zeigen Statistiken, dass häusliche Gewalt zugenommen hat, und für viele Menschen die psychische Gesundheit zum Problem wird. Abgesehen davon, wirkt das Leben aber wieder recht normal. Ich sage das, weil die Läden und Shopping Center hier in Zenica nun wieder geöffnet und gut besucht sind, besonders auch die Cafés sind wieder voll.

Wie überall in Bosnien - und auf dem ganzen Balkan -, nimmt die Kaffeekultur einen wichtigen Teil des Alltags ein. Für eine Tasse ist immer Zeit. Am Abend treffen sich die Jungen in Zenica gerne in der Bonaparte Bar. Wird ein Lied der Kultband Dubioza Kolektiv gespielt, singen die Leute laut mit. Mehrere Mitglieder der Band stammen aus Zenica. Die Band ist ein wichtiges Sprachrohr über ethnische Grenzen hinweg und spricht für all jene, die von der korrupten Regierung und vom Nationalismus frustriert sind. Während des Lockdowns hat die Band Quarantäne-Konzerte online gestreamt. Nun sind Cafés, Bars und Restaurants offiziell wieder geöffnet. Als kürzlich im Netz Bilder eng beieinander sitzender Leute kursierten, zeigten sich viele Userinnen und User empört.

Macht es dir keine Angst, die Leute wieder so nah beieinander zu sehen?
Doch, ich finde es definitiv beängstigend, dass Cafés und Bars voll sind. Ich bin wütend auf unsere Regierung, weil sie fast nichts unternommen hat, als die Fallzahlen im vergangenen November zwischenzeitlich stark anstiegen. Ich denke, dass sich die Gesellschaft nicht bewusst ist, dass sie sich einschränken muss. Es braucht wohl Massnahmen von oben, bis alle verstehen, worum es geht. 

Am Ende des Tages legte ich mich zurück ins Bett, um mit meinen Freundinnen zu Videochatten.

Schränkst du dich ein, momentan?
Um ehrlich zu sein: Auch ich gehe raus. Aber wenn ich das tue, halte ich Distanz, zum Beispiel im Supermarkt oder auf der Bank. Mir ist aufgefallen, dass viele die Abstandsmarkierungen am Boden nicht mehr beachten. Das stört mich. Das wäre doch das Mindeste. Aber wenn du jetzt in Zenica wärst, hättest du das Gefühl, es sei Winter 2019, nicht 2021. Die Stadt ist voll. Gestern sprach ich mit einer Freundin darüber. Sie sagte, dass sie sich seltsam fühle mit diesen vielen Leuten um sie herum. Ich kann mich wirklich nicht entscheiden, ob ich so weitermachen will oder ob es mir lieber wäre, wenn es wieder in einen zweimonatigen Shutdown ginge. Beides ist nicht gut. Die eine Option ist schrecklich für die Leute, die andere für die Wirtschaft.

Zenica ist bekannt für seine Stahlindustrie. Die Stadt liegt rund eine Autostunde nord-westlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Bild: Aleksandra Hiltmann

Zenica ist bekannt für seine Stahlindustrie. Die Stadt liegt rund eine Autostunde nord-westlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo.
Bild: Aleksandra Hiltmann

Die Weltbank schätzt in ihrem halbjährlichen Wirtschaftsbericht zum Balkan, dass aufgrund der Corona-Krise über 300’000 Personen in der Region in die Armut abgerutscht sind. Insgesamt seien bis Juni fast 140’000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die wirtschaftlichen Fortschritte, die einige Balkanländer im Jahr zuvor gemacht hätten, seien unterbrochen, in einigen Fällen habe sich die positive Entwicklung gar umgekehrt. 

Radio Active Zenica aber handelt und sendet antizyklisch. Das Motto der Jugendlichen: «Zračim pozitivno», «Ich strahle positiv».

Die Kaffeekultur einen wichtigen Teil des Alltags ein. Für eine Tasse ist immer Zeit.  Bild: Aleksandra Hiltmann

Die Kaffeekultur einen wichtigen Teil des Alltags ein. Für eine Tasse ist immer Zeit.
Bild: Aleksandra Hiltmann



Aleksandra Hiltmann

Belgorod, Russland

Belgorod, Russland

Karlsruhe, Deutschland

Karlsruhe, Deutschland