WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Belgorod, Russland

Belgorod, Russland

Elena Tchentsova, 45, Englischlehrerin und Übersetzerin

Elena und ihre dreijährige Tochter Anna.

Elena und ihre dreijährige Tochter Anna.

Elena, wo genau liegt Belgorod?
Etwa 700 Kilometer südlich von Moskau, eigentlich ziemlich in der Mitte zwischen Moskau und dem Schwarzen Meer. Die Region Belgorod ist hauptsächlich topfeben und etwa so gross wie Frankreich. Wenn du hier am Abend um zehn Uhr in den Zug steigst, bist du am frühen Morgen in der Hauptstadt.

Beschreib uns Belgorod doch bitte kurz!
Wir haben hier kaum grössere Städte, sondern eher Vorstädte und Dörfer, dazwischen Felder, Wiesen und Wälder. Die Stadt Belgorod selber hat knapp 400’000 Einwohnerinnen und Einwohner. Im Krieg sind die meisten Häuser zerstört worden. Heute ist das Stadtbild von Strassen und Wohnblöcken im typischen Sowjetstil geprägt. Historische Gebäude gibt es kaum mehr, ausser der Kirchen und der grossen Kathedrale. Ich wohne mit meinem Partner und unserer dreijährigen Tochter Anna am Rande Belgorods, in der Nähe des Flughafens. Bin ich zu Fuss mit dem Kinderwagen unterwegs, benötige ich für die Strecke bis zum Park im Zentrum der Stadt etwa 25 Minuten.

Strasse in Belgorod, etwa 700 Kilometer südlich von Moskau

Strasse in Belgorod, etwa 700 Kilometer südlich von Moskau

 

Was siehts du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Wir sind gerade ein paar Tage bei meinen Eltern zu Besuch. Sie wohnen etwa 20 Autominuten ausserhalb der Stadt. Ich bin im Wohnzimmer, die Kleine sitzt mit meiner Mutter in der Küche und schaut sich einen Trickfilm an. Wenn ich von hier aus aus dem Fenster blicke, sehe ich die Pinien, die meine Mutter vor etwa 17 Jahre angepflanzt hat. Damals waren sie kaum grösser als eine Zündholzschachtel und nun ragen sie zu uns hoch. Nebenan sehe ich den Gemüsegarten der Nachbarn, ein paar Häuser - ansonsten nur noch Felder, die sich gegen den Horizont strecken.

 Was hast du heute gefrühstückt?
Porridge, auf Russisch “kasha”. Wir machen es aus Hirse, Kürbis und Heidelbeeren, die wir im Sommer geerntet und tiefgefroren haben, und mischen es mit Grütze. Dazu trinke ich Schwarztee mit Milch.

 Was ist zu deinem wichtigsten Gegenstand geworden?
Mein Laptop und mein Telefon. Aber das allerwichtigste in meinem Leben ist meine Tochter, ihr gehört derzeit meine ganze Aufmerksamkeit. Sie ist nicht mehr einfach nur das süsse Baby, sondern rennt herum, brüllt und zeigt Charaktereigenschaften, die manchmal keineswegs angenehm sind. Sie kommt nun wohl in “die Krise der Dreijährigen”, wie wir hier sagen.

 Was vermisst du am meisten?
Oh, ich denke, das ist wohl das, was die meisten Menschen in der Pandemie vermissen: Ich vermisse es, meine Freunde und Freundinnen zum Kaffee zu treffen. Ich habe in letzter Zeit viele Einladungen zum Kaffee angelehnt, weil ich Angst davor habe, es später zu bereuen. Denn ich fühle mich verantwortlich für meine Eltern. Ich will sie nicht gefährden.

Kasha aus Hirse, Kürbis und Heidelbeeren, vermischt mit Grütze.

Kasha aus Hirse, Kürbis und Heidelbeeren, vermischt mit Grütze.

Elena, hier in Europa haben wir viel von den Demonstrationen für den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny gehört. Hat es auch in Belgorod Proteste gegeben?
Ja, aber bei uns sind nur etwa 1000 Menschen auf die Strasse gegangen, Aufstände hab es keine, und meines Wissens ist bloss eine Person verhaftet worden. Doch sind auch hier viele unzufrieden mit der Regierung, was andererseits aber nicht bedeutet, dass sie Nawalny unterstützen.

Was kritisieren die Menschen an der Regierung? 
Den meisten ist das politische System ein Dorn im Auge, das es dem Präsidenten erlaubt, so lange an der Macht zu bleiben.

Du sagst, dass viele auch gegenüber Nawalny kritisch sind. Warum? 
Weil die Leute realisieren, dass Navalny nicht der ist, der er in den Augen der Gesellschaft sein will. 2003 wurde er wegen seiner nationalistischen Haltung aus der liberalen, pro-westlichen Partei Jabloko rausgeworfen. Später nahm er an den „Russischen Märschen“ teil, deren Motte lautete: „Russland den Russen“, und er machte mit rassistischen Äusserungen von sich reden. So liess er etwa verlauten, man solle alle Gastarbeiter rausschmeissen wie verfaulte Zähne.

In Europa gilt Nawalny als Held. Wie erklärst du dir das?
Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Ich verstehe nicht, weshalb die westlichen Staaten inklusive die USA bezüglich Nawalny so hysterisch sind. Sie behaupten, er kämpfe für seine Rechte. Warum ausgerechnet er? Es gibt in Russland unzählige Menschen, deren Rechte verletzt worden sind, aber um die kümmert sich kaum jemand. Vor kurzem hat die linke irische Politikerin Clare Daly das Europäische Parlament dafür gerügt, dass es Nawalny so viel Aufmerksamkeit schenkt, während etwa der Aktivist Assange kaum Beachtung findet.

Bist du selbst politisch aktiv?
Gar nicht. Aber ich verurteile die Organisatoren der Demonstrationen, weil sie über TikTok und Instagram 12- bis 14-jährige Kinder dazu aufgerufen haben, an den Protesten teilzunehmen. Sie haben sie als Schutzschilder zwischen den Polizisten und erwachsenen Demonstrierenden missbraucht. Diese Taktik ist krank.  

Dieses Narrativ könnte doch Teil einer Propaganda-Strategie sein, oder?
Man hätte es für Propaganda halten können, wenn diese Videos in den üblichen Sendungen am staatlichen Fernsehen gezeigt worden wären. Aber Protestierende von beiden Seiten haben Szenen mit Minderjährigen gefilmt und die Kanäle auf den Sozialen Medien damit geflutet.

Da kommt so ein winziger Käfer und zwingt die ganze Welt in die Knie.

Elena, lass uns nun den Sprung machen von der Politik zur Pandemie: Wie ist die Covid-Situation derzeit bei euch?
Frustrierend, die Infektionszahlen gehen einfach nicht runter. Wir habe noch immer zwischen 185 und 197 Fälle pro Tag. Ich weiss, im Vergleich zu euch scheint das wenig. Aber das sind nur die bestätigten Fälle, die Dunkelziffer ist wohl sehr viel höher. Für ganz Russland werden täglich etwa 30’000 Neuinfektionen verzeichnet. Vor ein paar Tagen erklärte der Gesundheitsminister, dass wir nun ein Plateau erreicht hätten und die Fallzahlen wohl sinken würden. Aber wer weiss schon genau, was morgen passieren wird? Letzten April hatten wir einen Lockdown, der dauerte bis Mai. Das war schlimm, aber längst nicht so schlimm wie heute. Denn nach dem Lockdown delegierte die Regierung die Entscheidung über die Restriktionen an die lokalen Behörden. Nun hat jede Region und jede grössere Stadt ihre eigenen Schutzmassnahmen. Das ist crazy. Immerhin sind bei uns Läden, Märkte, Cafés, Schulen und Kindergärten offen. Restaurants sind hingegen geschlossen.

Inwiefern hat der Impfstoff das Leben erleichtert?
Das lässt sich noch nicht feststellen. Erste Resultate werden wir – wenn überhaupt - wohl erst im Herbst oder Winter sehen.

Bist du schon geimpft worden?
Noch nicht. Ich war schon zweimal im Impfzentrum, wurde aber weggeschickt, weil ich beim Eingangscheck jedesmal 37,5 Grad Temperatur hatte. Ich habe keine Ahnung warum, und das beunruhigt mich. Sobald ich darf, werde ich mich impfen lassen. Ich will zumindest einen Teil meines freien Lebens zurück. Immerhin sind meine Eltern geimpft worden - ohne irgendwelche Nebenwirkungen.

Hast du das Gefühl, die Pandemie hätte die Menschen verändert?
Schwer zu sagen. Ich habe langsam den Eindruck, dass alle irgendwie deprimiert sind. Die Pandemie trifft jeden, die Geschäftsleute, die Künstlerinnen, und viele Familie haben Angehörige oder Freunde verloren. Während der Weihnachtszeit haben die Menschen ihre Häuser nicht so üppig dekoriert wie sonst, auch das ist für mich ein Zeichen der Depression. Und die Eltern von schulpflichtigen Kindern sind wütend: Erst waren sie wütend, weil die Schulen geschlossen waren. Jetzt sind sie wütend, weil die Schulen geöffnet sind, und die Kinder dadurch dem Risiko ausgesetzt sind, sich mit dem Virus anzustecken und es nach Hause zu bringen.

Gibt es etwas, das dich die Pandemie gelehrt hat?
Dass das Leben höchst fragil ist, und dass du an dem, was du hast, festhalten musst, ganz besonders an Freundschaften. Letztlich kannst du aber nichts anderes tun, als die Zähne zusammenzubeissen, die Hände zu Fäusten zusammenzuballen und darauf zu warten, dass sich die Situation verbessert. Ich spüre, dass ich ängstlicher geworden bin.

Ängstlicher?
Weisst du, da haben wir jahrelang Angst vor einem neuen Krieg gehabt - und was passiert? Da kommt so ein winziger Käfer und zwingt die ganze Welt in die Knie. Das ist so furchteinflössend wie traurig. Denn zu viele Menschen, die eben noch kerngesund waren, oder die trotz Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen noch mindestens zehn Jahre hätten leben können, wurden vom Virus dahingerafft. In Russland sind bis heute wohl etwa 70’000 Menschen an Covid-19 gestorben. Aber eben, das sind nur die offiziellen Zahlen. Mittlerweile hören wir, dass Covid-Patienten in kleinere Regionalspitäler transferiert werden müssen, weil die drei grossen Krankenhäuser, die für Covid-Erkrankte vorgesehen sind, voll sein sollen. Genaueres wird jedoch nicht bekannt gegeben. 

Wie belastend ist das?
Na ja, inzwischen scheint es die meisten Menschen nicht mehr so zu kümmern. Sie haben die Nase voll von der Situation und sind müde. Zu Beginn der Pandemie haben alle nach Informationen gelechzt, nach Zahlen zu Erkrankten, zu Verstorbenen, zu Patienten, die beatmet werden müssen. Meine Mutter und ich waren genauso. Ich habe einen neuen Begriff gelernt: „Doom Scrolling“ - wenn man ständig auf der Suche ist nach schlechten Nachrichten. Aber ich habe damit aufgehört. Wir können ja ohnehin nichts ändern. 

“Wenn ich von aus aus dem Fenster blicke, sehe ich die Pinien, die meine Mutter vor etwa 17 Jahre angepflanzt hat. Damals waren sie kaum grösser als eine Zündholzschachtel .”

“Wenn ich von aus aus dem Fenster blicke, sehe ich die Pinien, die meine Mutter vor etwa 17 Jahre angepflanzt hat. Damals waren sie kaum grösser als eine Zündholzschachtel .”

Wie hat die Pandemie deinen Alltag geprägt?
Eigentlich nicht gross, denn ich bin seit der Geburt meiner Tochter vor bald drei Jahren mehr oder weniger zuhause. Ich bin ja noch immer im Mutterschaftsurlaub. Ich hätte mir gewünscht, dass Anna und ich einfach so mal auf einen Spielplatz gehen können. Es gibt sehr viele neue schöne Spielplätze in Belgorod, die Behörden haben in dieser Hinsicht einen wunderbaren Job gemacht. Zudem haben sie die ganzen Parkanlagen renoviert und die Spazierwege, die am Fluss entlangführen. Aber ich wage mich nicht in die Parks. Ich habe Angst vor Menschenansammlungen. 

Das kann ich verstehen. Aber - was hast du gesagt? Ihr habt drei Jahre Mutterschaftsurlaub in Russland? Das ist ja grossartig!
Ja, das ist es. Nur heisst das nicht, dass du drei Jahre lang finanziell entschädigt wirst. Du erhältst während der ersten eineinhalb Jahre 80 Prozent deines Lohns, danach nichts mehr. Dann kannst du höchstens noch die Rechnungen für dein Mobiltelefon bezahlen. Die meisten Frauen nehmen deshalb nur eineinhalb Jahre Mutterschaftsurlaub. So hatte ich es auch geplant, doch dann brachte die Pandemie alles durcheinander. Wenn nun alles so läuft, wie wir es uns erhoffen, kommt Anna im August in die Krippe. 

Wie hat die Pandemie das Verhältnis zwischen Frauen und Männern beeinflusst?
Sie hat die Scheidungsrate um 80 Prozent erhöht. Das hat wohl einerseits mit den beengten Wohnverhältnissen zu tun. Die meisten Paare und Familien leben in sehr kleinen Apartments, waren monatelang zusammengepfercht und konnten nicht raus. Das hält kaum jemand aus. Zudem haben die Frauen für alle und alles sorgen müssen: für den Ehemann, die Kinder, den Haushalt. Auch das hält keine aus.

In der Schweiz hat während des Lockdowns die häusliche Gewalt zugenommen. Hat man dasselbe auch in Russland beobachtet?
Ihr habt tatsächlich häusliche Gewalt in der Schweiz? Das überrascht mich jetzt. Ich dachte immer, die Schweiz sei so ein makelloser Flecken auf dieser Erde. Hier in Russland ist häusliche Gewalt so verbreitet, dass sie aufgrund des Virus kaum noch schlimmer werden kann. In 90 Prozent der Fälle ist Alkohol im Spiel.

Ist die Situation durch höhere Lebenshaltungskosten zusätzlich verschärft worden?
Sicher. In den letzten Monaten haben sich die Preise für Zucker, Mehl und Sonnenblumenöl zum Teil beinahe verdoppelt. Für ein Kilo Zucker zahlen wir heute 80 Cents, früher waren es 50. In der Region Belgorod beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen etwa 600 Euro, da schmerzen jegliche Preiserhöhungen sehr. Warum die Preise so gestiegen sind, ist nicht bekannt. In den Newssendungen wurde das rauf- und runterdiskutiert. Sogar der Präsident hat sich eingeschaltet.

Derzeit leben wir an drei verschiedenen Orten: Im Haus meiner Mutter, bei seiner Mutter und in unserer eigenen Wohnung. Damit versuchen wir einander zu entlasten.

Wie geht es dir und deinem Partner? Wir hält ihr als Paar die Pandemie aus?
Eigentlich ganz gut. Mein Partner hilft mir, wo er kann. Trotzdem bleiben der Haushalt und die Betreuung unserer Tochter an mir hängen. Das frustriert mich. Manchmal macht es mich sogar wütend. Derzeit leben wir an drei verschiedenen Orten: Im Haus meiner Mutter, bei seiner Mutter und in unserer eigenen Wohnung. Damit versuchen wir einander zu entlasten.

Ihr lebt an drei Orten. Warum das denn?
Unsere Wohnung ist bloss 55 Quadratmeter gross, und Anna bleibt natürlich nicht einfach brav in einem Zimmer sitzen, sondern rennt in der ganzen Wohnung herum. Das ist normal, klar. Aber mein Partner kann sich dann nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er ist, wie ich, als Übersetzer tätig. Wenn er einen grossen Auftrag hat, geht er zu seiner Mutter. Dort kann er in Ruhe arbeiten.

Wie kommst du zur Ruhe?
Wenn Anna ihren Mittagsschlaf hält, und an guten Tagen schläft sie etwa zwei Stunden, habe ich Zeit für mich (lacht). Dann ziehe ich mich in die Küche zurück, mache die Türe zu, gönne mir einen Kaffee und ein Stück Schokolade, und schaue mir auf meinem Laptop einen Film an.

Anna und ihr Schneemann. Sie kommt nun wohl in “die Krise der Dreijährigen”, wie man in Russland sagt.

Anna und ihr Schneemann. Sie kommt nun wohl in “die Krise der Dreijährigen”, wie man in Russland sagt.

Was schaust du so?
Ich liebe alte sowjetische Filme und „Desperate Housewives“. Und kürzlich habe ich die britische Comedy-Serie Jeeves and Wooster mit Stephen Fry und Hugh Laurie wiederentdeckt. Ich hatte sie in den 90er Jahren geschaut und mich damals kaputtgelacht. Heute finde ich sie nicht mehr so lustig - was mich wiederum ein bisschen beunruhigt.

Na ja, du bist älter geworden. Zudem haben wir Pandemie.
Genau.

Was erhoffst du dir für die kommenden Monate?
Dass meine Eltern gesund bleiben - und dass diese eintönige Routine, die uns jetzt schon seit einem Jahr im Griff hält, endlich durchbrochen wird. Ich hoffe, dass ich im September wieder unterrichten kann, ich vermisse meine Schülerinnen und Schüler. Und für Anna wird es höchste Zeit, dass sie in den Kindergarten kommt. Sie braucht dringend Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen und Buben. Für meinen Geschmack geht sie schon viel zu gut mit meinem Handy um. Sie weiss jetzt schon, wie man Selfies macht und liebt es, sich selber auf Fotos zu sehen. Und das, obwohl ich ihr nicht einmal gezeigt habe, wie es geht. 

Buenos Aires, Argentinien

Buenos Aires, Argentinien

Zenica, Bosnien-Herzegowina

Zenica, Bosnien-Herzegowina