Winterthur, Schweiz
Gioia Bono, 18, Maturandin
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Blicke ich durch die etwas dreckigen Fensterscheiben meines Zimmers, sehe ich unseren Garten, der für mich in den letzten Monaten zu einem essentiellen Fluchtort geworden ist. Als erstes fallen mir die mit Zucchini, Zuckerschoten und Kräutern bepflanzten Hochbeete ins Auge. Weiter hinten erblicke ich den Anfang unseres Hühnergeheges, mitsamt der Hennen, die meine Mutter und mein Bruder liebevoll Blue, Flocke, Mia und Lia getauft haben. Unmittelbar hinter dem Zaun liegen die Gleise, auf denen der Bahnverkehr langsam wieder zunimmt. Lasse ich meinen Blick noch ein wenig weiter schweifen, kann ich auf das Dorf heruntersehen. Der grosse Kirchturm steht im Fokus, ich erkenne aber auch die stark befahrene Hauptstrasse. Während des Lockdowns war sie fast leer.
Was hast du gefrühstückt?
Früchtemüsli und eine Banane. Auch der tägliche Kaffee mit aufgeschäumter Hafermilch durfte nicht fehlen.
Was ist dein wichtigster Gegenstand?
Mein Laptop - wie bei so vielen anderen in diesem Jahr. Während der Selbstisolation habe ich ihn für den Unterricht, die Unterhaltung und als Kommunikationsmittel benutzt. Das Internet half mir, neue Sachen zu lernen, wie zum Beispiel Nähen, und mit meinen Liebsten in Kontakt zu bleiben.
Was vermisst du am meisten?
Am meisten fehlt mir, unbeschwert in den Ausgang gehen zu können. Ich war nie die typische Partygängerin und selten jedes Wochenende unterwegs. Allerdings liebe ich Konzerte, und die können in ihrer bisher bekannten Form nicht stattfinden. Zwar sollen ab Oktober Veranstaltungen bis zu 1000 Personen wieder erlaubt werden, doch ich werde denen vermutlich nicht beiwohnen. Denn mich plagt jetzt schon immer das schlechte Gewissen, selbst dann, wenn ich abends nur mit einer kleinen Gruppe im Stadtpark sitze und ein Bier trinke. Ich muss die ganze Zeit auf der Hut sein, damit ich zu fremden Menschen auch ja den Sicherheitsabstand wahren kann.
In der Schweiz haben sich seit Beginn der Pandemie bis zum 23. August 39903 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 1720 sind an Covid-19 gestorben. Dank des Lockdowns von Mitte März bis Ende April gelang es zwar, die Fallzahlen drastisch zu senken, wochenlang blieben sie im einstelligen Bereich, doch steigen sie seit August wieder an. Inzwischen werden pro Tag regelmässig über 300 neue Fälle gemeldet, täglich rund 8000 Tests durchgeführt..
Wie sich der Lockdown auf die verschiedenen Generationen ausgewirkt hat, wird in Studien untersucht und aufgearbeitet werden müssen. Die 18-jährige Schülerin Gioia Bono erzählt hier aber schon mal, wie es für sie war, keine Maturaprüfung (in Deutschland: Abitur) ablegen zu können. Denn im Gegensatz zu den Kantonen Thurgau, St. Gallen, Schwyz, Zug, Aargau und Schaffhausen, beschloss der Kanton Zürich, der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz, auf Maturaprüfungen zu verzichten. Die Abschlusszeugnisse sollten anhand der Erfahrungsnoten ausgestellt werden. Begründet wurde dieser Entscheid damit, dass es ein zu grosser organisatorischer Kraftakt gewesen wäre, für rund 2500 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mitten in der Corona-Krise Abschlussprüfungen abzuhalten. Zudem fürchteten die Behörden eine Flut von Komplikationen und Rekursen. Doch mit diesem Entscheid, sagt Gioia, habe man sie und ihre Klassenkameraden letztlich eines wichtigen Abschiedsrituals beraubt.
„Und, wie fühlt es sich so an, die Matura geschenkt zu bekommen?“
Das ist eine Frage, die mir in letzter Zeit sehr oft gestellt worden ist - von Verwandten, Freunden aus dem Jahrgang über mir, sogar von Lehrpersonen. Ich weiss noch, wie im im Mai meiner Mutter berichtete, dass die Bildungsdirektion des Kantons Zürich sich gegen Abschlussprüfungen in Gymnasien entschieden hatte, und dabei vor Erleichterung durchs Wohnzimmer getanzt war. Zu dieser Zeit war mir allerdings noch nicht bewusst, wie oft ich in der darauffolgenden Zeit so tun werden müsste, als ob ich diesen Kommentar lustig fände, obwohl ich innerlich vor Frustration laut aufstöhnte. Doch inzwischen habe ich aufgehört zu beschreiben, wie komisch es ist, sechs Jahre lang auf etwas hinzuarbeiten, das am Schluss nicht einmal stattfindet, sondern erzähle, wie es sich wirklich anfühlt, seine Matura «geschenkt» zu bekommen.
Geschenkt bekommen hat mein Jahrgang nichts. Schliesslich sind auch wir zwölf Jahre in die Schule gegangen, haben stundenlang pauken und unsere Leistung konstant gut halten müssen. Vielleicht hatten wir aufgrund der fehlenden Abschlussprüfungen ein paar Nervenzusammenbrüche und Heulsessions weniger, trotzdem haben wir uns die Matura verdient, und das darf uns niemand ausreden. Dazu kommt, dass die Erfahrung der Prüfungen nicht das Einzige ist, was uns, dem mittlerweile liebevoll genannten «Corona-Jahrgang», abhanden gekommen ist. Denn was viele nicht bedenken, ist der emotionale Wert, der genau diesen letzten Schulwochen innewohnt. Die meisten von uns sind zur Zeit ihres Schulabschlusses achtzehn Jahre alt. Das bedeutet, dass wir ein Drittel und somit um die 2090 Tage unseres bisherigen Lebens an der Schule verbracht haben. Dort wurden wir unglaublich stark geprägt und zu den Menschen, die wir heute sind.
Natürlich war es kein Zuckerschlecken, und jeder von uns hatte es manchmal schwer, sich für den Schulalltag zu motivieren. Doch gab es um uns herum immer wieder Lehrerinnen und Lehrer, die alles dafür taten, den Unterricht interessanter und lustiger zu gestalten. Nach all den gesammelten Erinnerungen und Erfahrungen, nach all dieser Zeit - wie kann man mit diesem Lebensabschnitt abschliessen, wenn einem alles fehlt, oder alles ausfällt, was den Schlussstrich hätte ziehen sollen? Der letzte Schultag, der Maturastreich, die Reise in die Berge und nach Barcelona, der Maturaball, die Maturafeier, die Prüfungen und schlussendlich auch das Wissen darum, dass die Schulzeit nun zu Ende ist.
Als wir uns am Freitag, den 13. März, von unseren Freunden und Freundinnen verabschiedeten, taten wir es mit den Worten: „Wir sehen uns dann in sechs Wochen!“ Bis zu diesem Zeitpunkt war ich nie abergläubisch gewesen, aber vielleicht ist am Freitag, dem dreizehnten doch etwas dran. Denn little did we know, wie es am Schluss wirklich herauskommen sollte, und dass genau dieser eine Tag unser letzter Schultag sein würde. Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich an jenem Nachmittag einen Englischaufsatz nachholen musste, da ich ein paar Tage zuvor krank gewesen war, und sehnlichst darauf gewartet hatte, endlich meiner Lehrerin den Text in die Hand zu drücken und in das Wochenende zu starten. Im Nachhinein hätte ich genau diesen Moment komplett auskosten sollen. Aber wer hätte schon damit gerechnet, dass es meine letzte Schulstunde sein würde?
Das letzte Semester der sechsten Klasse hatte ja erst vor wenigen Wochen begonnen. Der Lockdown, die Schulschliessungen und die Umstellung auf den virtuellen Unterricht - das alles hat uns zwar erst schockiert und überrumpelt, der Schock legte sich aber schnell, und genauso schnell wurde das Homeschooling zur Routine. Wir lernten, unseren Alltag zu strukturieren und uns den Stoff selber beizubringen, ohne viel Hilfe von den Lehrpersonen erwarten zu können. Denn diese waren mit der neuen Unterrichtsform masslos überfordert. So haben uns diese Monate wahrscheinlich besser auf die Universität vorbereitet, als es die Abschlussprüfungen je hätten tun können.
Allerdings verursachte diese enorme Umstellung auch grosse Ängste. Damit meine ich nicht nur die überall herrschende Furcht vor der Pandemie, sondern auch die Sorgen wegen der unbekannten Zukunft. Denn wenige von uns wussten, was sie nach der Schulzeit mit ihrem Leben anfangen wollten, und jetzt sahen sie sich gezwungen, es innerhalb weniger Wochen herauszufinden. Ein Zwischenjahr, in dem man arbeitet und danach auf Reisen geht, üblicherweise eine beliebte Möglichkeit, um sich selbst und seinen Wünschen näher zu kommen, war jetzt nicht mehr möglich. Zudem waren wir auf uns allein gestellt, mussten selber Wege finden, um aus diesem emotionalen Tief herauszufinden. Denn es schien, als gäbe es niemanden, der dasselbe fühlen würde. Wegen des Social-Distancings konnte man seine liebsten Freundinnen und Freunde nicht sehen und einfach einmal fest drücken. Es fehlte die Nähe und Unterstützung, die man in den letzten Jahren genossen, aber nicht genug wertgeschätzt hatte. Nähe und Wertschätzung können aber leider nicht über das Internet erfolgen. Natürlich haben auch wir Facetime-Calls gemacht, doch die Stimmung war nie dieselbe, oft waren die Calls sogar kontraproduktiv, da man diese besonderen Menschen dann nur noch mehr vermisste.
Im Gegensatz zu meinen engsten Freundinnen hatte ich immerhin den Vorteil, dass ich schon vor Corona wusste, dass ich nach dem Schulabschluss an die Uni gehen und Soziologie und Germanistik studieren will. Dieser klare Plan hat meinen persönlichen Schock abgefedert. Darüberhinaus hatte ich die Möglichkeit, während des Sommers im Rebberg, den meine Eltern bewirtschaften, auszuhelfen. Diese Beschäftigung hat mich abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht. So fiel es mir leichter, über den abrupten Abschluss hinwegzukommen.
Dennoch - ein Drittel meines achtzehnten Lebensjahrs und die Hälfte meines letzten Schuljahrs habe ich in Selbstisolation verbracht. Ich habe gelernt, dass alles, was für uns in Stein gemeisselt scheint, in wenigen Wochen einfach so zerbröckeln kann, und dass man darüber überhaupt keine Kontrolle hat. Zudem ist mir in dieser Zeit bewusst geworden, wie wichtig Abschiedsrituale für Menschen sind. Sie helfen dabei, einen Abschnitt seines Lebens abzuschliessen. Und viele dieser wichtigen Rituale, haben für den “Coronajahrgang” nicht stattgefunden, zurück bleiben Frustration und Enttäuschung.
Wie es sich also anfühlt die Matura “geschenkt” zu bekommen, wollt ihr wissen?
Ziemlich beschissen.
Gioia Bono