Ritsona-Flüchtlingslager, Griechenland
Parwana Amiri, 16, Schriftstellerin
Was hast du heute gefrühstückt?
Wie fast jeden Morgen Butter und selbstgemachte Marmelade und Brot von meiner Mutter.
Dazu heiße Milch.
Was ist im Moment dein wichtigster Gegenstand?
Mein Notizbuch - noch vor meinem Telefon, auf dem ich alles organisiere.
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Gerade sehe ich zwei Frauen mit einem Wäschekorb auf dem Weg zu ihrem Zelt.
Und eine Gruppe, die auf einen Anwalt wartet.
Eines Morgens stand sie zwischen zwei Zelten im dämmrigen Zwielicht. Mit Augen wie Scheinwerfer, die einen nicht aus dem Fokus lassen. In der Hand zwei Bücher. Wir liefen den Olivenberg hinunter. Mit dem Rücken zum Zelt ihrer Eltern, die gerade mit einem großen Stein eine Wasserrinne vor dem Zelt graben.
„Wie ist dein Griechisch?“ fragte sie mich. „Frag nicht,“ antwortete ich kopfschüttelnd.
„Wie kann das sein? Du sagst doch, du lebst hier seit Monaten,“ entgegnete sie.
„Ja,“ sagte ich. „Streng dich mal ein bisschen an,“ meinte sie lachend. Dann bog sie zum verschlammten Hauptweg ab, um ein paar morgendliche Besorgungen zu machen.
Das war meine erste Begegnung mit der Afghanin Parwana Amiri. Vor etwa einem Jahr. Damals lebte sie noch in Moria mit ihrer Familie. Schrieb ihre Gedichte, Kurzgeschichten und Erzählungen meistens nachts, beim Licht ihres Handys. Sie war vier Monate lang in Moria.
Ich begegnete ihr wieder, als ich im März dieses Jahres in Athen einer Demonstration entlang rannte, die sich gegen den Bau geschlossener Lager auf den Ägäischen Inseln richtete. Am 29. Februar hatte die Türkei angekündigt, die Grenzen für Geflüchtete in Richtung Griechenland zu öffnen. Kurz darauf hebelte die griechische Regierung das Recht auf Asyl komplett aus.
„Es gibt kein Ankommen,“ sang Parwana, die ganz vorne in der Reihe mitlief. Als einzige Frau befand sie sich in der kleinen Gruppe der Protestierenden hinter dem Banner mit der Aufforderung „Evacuate the Camps!“ Vor kurzem war sie mit ihrer Familie nach Ritsona umgesiedelt worden, in ein Lager auf dem griechischen Festland. Es war unmittelbar vor dem Ausbruch des Coronavirus. Schon im April steht das Lager unter Quarantäne. Über 40 Infizierte gibt es damals. Keiner der 3000 Bewohnerinnen und Bewohner darf das Lager verlassen, keiner darf neu hinein. Die Fußballplätze sind gesperrt, die selbstorganisierten Gemüsegärten verwelkt, Apotheken oder Freiluftkinos unerreichbar. „Uns fehlte es in dieser Zeit an allem,“ sagt Parwana rückblickend. „Windeln, Zwiebeln, Milchpulver. Es ist ja nicht so, dass es hier in den Lagern eine ausreichende Grundversorgung gäbe. Egal, ob auf den Inseln oder auf dem Festland.“
In den Folgemonaten bewahrheitete sich immer mehr, was Parwana schon im Frühling an der Demonstration in Athen skandierte: Es gibt kein Ankommen mehr. Nicht für neue Geflüchtete auf den Inseln. Und auch nicht für die Verbliebenen auf dem zerzausten Militärgelände von Moria auf Lesbos, nicht für die anerkannten Geflüchteten auf den Parkbänken Athens, und auch nicht für diejenigen, die über den gefährlichen Evros-Grenzfluss nach Griechenland gelangen und in den Abrissgebäuden im Rotlichtviertel Thessalonikis unterkommen müssen. Die Räume, in denen Geflüchtete leben, werden immer kleiner, immer überwachter und immer rechtloser.
"Wenn diese Leute sehen, wie die Lebensbedingungen auf den Inseln sind, werden sie es sich zweimal überlegen, ob sie ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu kommen, oder ob sie nicht doch lieber daheimbleiben,“ sagte Adonis Georgiadis, Vizeparteichef der regierenden konservativen Neu Dimokratia im Frühling. Zudem wird die Coronakrise benutzt, um die überfüllten Lager in geschlossene Gefängniscamps zu verwandeln. Dagegen schreibt Parwana an. „Ich will diese Zeit um mich herum dokumentieren,“ sagt sie, „der Welt zeigen, dass Geflüchtete selbst Entscheidungen treffen, dass sie denken und handeln.“
Nachdem sie Afghanistan verlassen hatte, sagt Parwana, hat sie nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern auch ihre Identität, ihre Würde, ihren Respekt.
An dem Septembermorgen, an dem ich sie in Ritsona am Telefon erreiche, hat es noch immer über dreißig Grad im Lager. Sie wartet auf ihre Schülerinnen, die zu ihr in den Englischunterricht kommen. Die Schülerinnen decken alle Altersgruppen zwischen 11 und 40 Jahren ab.
Parwana antwortet oft poetisch, überlegt, in mehreren Schichten. Selbst dann, wenn sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wird. Die Wochen in der Isolation haben die Menschen im Lager mitgenommen, ihre Psyche schwer belastet. Während die Welt in den Nachrichten erfährt, was mit ihnen, den Geflüchteten, passieren soll, werden sie als letzte informiert. Vor allem jetzt, in Zeiten von Corona.
„Für mich bedeutet eine Grenze nicht, die Berge zu überqueren, das Meer und die Wüste – es geht nicht darum, von einem Land ins nächste zu kommen”, sagt Parwana. “Eine Grenze schließt dich durch die Isolation von der Welt ein. Dann, wenn du nicht für dich sprechen, handeln und am Leben teilhaben darfst.“
Trotz eines weiteren drohenden Lockdowns im Lager will Parwana weiter unterrichten. „Als Flüchtling kann ich dir nicht sagen, was ich mir für das Leben im nächsten Jahr wünsche. Unser Leben bleibt immer fremdbestimmt. Solange, bis du dir deine eigenen Grenzen schaffst.“
Die steckt sie durch das Schreiben ab.
Hier ist eines ihrer Gedichte:
Every night, before sleep
Every night, silently
Every night, lonely
I dress my harsh realities
In dreams
Every night, with my pen
Every night, with my words
I hug my dreams
I review my story
Every night, before sleep
Every night, when all sleep
In my silence, with myself
I build with my words
A new world
In my world, home is for all
In my world, school is a right
In my world, you have peace
In my world, war is banned
In my world, the world is for all
sun is mom, moon dad
Mother Earth is a planet for all
But
When I close my eyes
In dreams, as in reality,
I live nightmares…..