WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Cali, Kolumbien

Cali, Kolumbien

Hedder Quintanilla Fernández, 34, Kunsthandwerker

Hedder erschafft seine Kunsthandwerke aus Metall, Holz, Faden, Edelsteinen, Samen, Muscheln und Teile von Tieren.

Hedder erschafft seine Kunsthandwerke aus Metall, Holz, Faden, Edelsteinen, Samen, Muscheln und Teile von Tieren.

In Kolumbien, ein Land im Nordwesten Südamerikas mit über 50 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, haben sich bis heute rund 358000 Menschen mit dem Corona-Virus angesteckt, davon über 23000 in Cali, der drittgrössten Stadt des Landes. Knapp 12000 Personen sind in Kolumbien an dem Virus gestorben. Das Land befindet sich seit dem 17. März in einem nationalen Lockdown, der vor kurzem bis zum 31. August verlängert wurde.


 Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Ich befinde mich gerade in Cali, Kolumbien. Eigentlich kenne ich die Stadt nicht gut. Ich bin nämlich aus Peru. Aber die Leute von hier sagen, dass Cali nicht dieselbe Stadt ist wie früher. Das Quartier, in dem ich mich seit Beginn des Lockdowns in einem Hostel aufhalte, heisst San Antonio. Hier war das Bohemien-Viertel von Cali, hier war immer viel los, es gab viele Strassenkünstlerinnen und -künstler. Die Leute waren immer draussen, hatten etwas zu Trinken und hörten Musik. So lebte man in San Antonio. Aber jetzt, wegen Covid, sind die Touristen weg. Die Leute lebten vom Tourismus, hier hat es viele Galerien, Kunstverkauf, Läden. Nun schaue ich zum Fenster raus und sehe kaum Leute. Ich sehe nichts, es ist sehr ruhig hier. Also, die Strasse sehe ich, wenn ich auf der Terrasse bin oder in der Küche. Das Zimmerchen, in dem ich übernachte, hat nämlich nur ein Innenfenster zur Küche, das erst noch mit Holzplatten verrammelt ist. Das Ding erfüllt die Funktion eines Fensters eigentlich nicht. 

Blick auf die leere Strasse. Die Touristen sind weg.

Blick auf die leere Strasse. Die Touristen sind weg.

Was ist dein wichtigster Gegenstand?
Das Handy, natürlich, und das Internet. So kann ich mit meiner Familie sprechen. 

 Was vermisst du am meisten?
Die Möglichkeit zu reisen, nicht an einem Ort eingesperrt zu sein. Autonom über meine Zeit und meinen Raum zu verfügen. Und ich vermisse die Touristinnen und Touristen, denn sie kaufen meine Produkte. Wenn es keine Reisenden und auch sonst keine Leute in den Strassen hat, kann ich nicht arbeiten.  

Was hast du gefrühstückt?
Ich trank einen Kaffee und ass ein Brötchen, ein ‘bolillo’, wie sie dem typisch kolumbianischen Brot sagen. Ich mag das Brot der Schweiz, wo ich vorher gewohnt habe, aber das kolumbianische Brot mag ich nicht. Ich esse eigentlich nicht viel Brot hier, aber heute haben mich die Leute vom Hostel zum Frühstück eingeladen. Und jetzt hocken wir alle, die hier wohnen, zusammen in der Küche und denken darüber nach, was wir am Mittag kochen können. Jemand hat etwas Reis, jemand anderes ein wenig Gemüse, ein dritter ein paar Früchte. So können wir immer etwas kochen, wenn wir zusammenlegen. Ich habe während der Zeit hier auch gemerkt, dass ich, wenn ich erst spät aufstehe, das Frühstück auslassen kann und nur zu Mittag esse. Ein Freund von mir, der hier wohnt, isst nur einmal am Tag. So kann er Geld sparen.

Die Terrasse des Hostels gibt den Blick frei auf Cali. Vor kurzem wurde die Quarantäne verlängert bis Anfang September. Den Leuten ist es verboten, sich frei zu bewegen.

Die Terrasse des Hostels gibt den Blick frei auf Cali. Vor kurzem wurde die Quarantäne verlängert bis Anfang September. Den Leuten ist es verboten, sich frei zu bewegen.

Es ist nötig, Geld zu sparen, weil man in den Strassen nichts verdienen kann. Ich lebe von meinem Kunsthandwerk. Vor der Pandemie verkaufte ich meine Produkte in den Strassen und reiste so durch ganz Lateinamerika. Ich war in Ecuador, als die Sicherheitsmassnahmen begannen. Weil die Situation in Ecuador sehr schwierig war, entschied ich mich, nach Kolumbien zu gehen. Ich überquerte die Grüne Grenze und gelang mit dem letzten öffentlichen Transport nach Cali. 
Als ich dann hier ankam, begann der Lockdown auch in Kolumbien. Am Anfang hatte ich noch einen Haufen unfertiger Arbeiten, einzelne Fäden und so weiter. Deshalb stand ich immer früh auf, nahm eine Dusche und zog mich anständig an, um den ganzen Tag lang zu arbeiten. Aber jetzt bin ich mit allem fertig und seit einem Monat bereit zur Abreise.

Vor kurzem wurde die Quarantäne verlängert bis Anfang September. Den Leuten ist es verboten, sich frei zu bewegen, sie dürfen – den Endziffern ihrer Identitätskartennummer entsprechend – nur an ausgewählten Tagen aus dem Haus gehen. Sperrstunde ist jeweils von Freitag um 21 Uhr bis am Montag um 6 Uhr in der Früh, und während des ganzen Wochenendes ist es verboten, Alkohol zu verkaufen. Hier im Hostel verkaufen sie aber trotzdem Alkohol, und wir können trotz Alkoholverbot trinken.

Hedder ist Peruaner,  aus Lima. Weil er keine offizielle Aufenthaltsbewilligung hat, ist es schwierig, sich in Kolumbien zu bewegen.

Hedder ist Peruaner, aus Lima. Weil er keine offizielle Aufenthaltsbewilligung hat, ist es schwierig, sich in Kolumbien zu bewegen.

Ich weiss nicht, wie viele Menschen mit Covid infiziert sind in Cali oder Kolumbien. Ich versuche, kein Fernsehen zu schauen, weil ich mich immer verarscht fühle. Fast jeden Tag kommt der Präsident und erzählt irgendetwas, bla bla bla, und dass Ende Monat die Quarantäne zu Ende sein wird. Dann, eine Woche vor Ende der Quarantäne, sagt er: «Ja, die Fälle steigen weiter an, darum werden wir die Sicherheitsmassnahmen weiterhin aufrechterhalten, Sperrstunde für alle». Das ist so eine Scheisse. Hier spekulieren eh alle die ganze Zeit, was als nächstes passieren wird, und erzählen sich, dass sie dieses und jenes gehört hätten. Ich versuche, bei diesen Gesprächen nicht mitzureden und an andere Dinge zu denken. Nur, wenn ich etwas Wichtiges höre, prüfe ich das im Internet nach. 

Die Leute hier im Hostel haben eh am meisten Angst davor, auf der Strasse eine Busse zu erhalten. Wir kennen fast niemanden, dessen Familienmitglieder an Covid gestorben sind. Darum haben die Leute kaum Angst vor der Pandemie. Wenn ich in den San Antonio Park gehen kann und meine Arbeiten ausstelle, rede ich mit den anderen Kunsthandwerkerinnen und -handwerkern, auch die haben kaum Angst.

“Fast jeden Tag kommt der Präsident und erzählt irgendetwas, bla bla bla, und dass Ende Monat die Quarantäne zu Ende sein wird.”

“Fast jeden Tag kommt der Präsident und erzählt irgendetwas, bla bla bla, und dass Ende Monat die Quarantäne zu Ende sein wird.”

Als die Quarantäne losging, stellte ich mir vor, dass sie etwa drei Monate dauern würde. Ich hatte eine Ahnung, was in Europa passiert war. Sogar in Italien dauerte die Quarantäne nur drei Monate. Die Leute glaubten also, dass es hier ähnlich sein würde, und sie nach drei Monaten wieder arbeiten können. Von offizieller Seite wurden Lügen und falsche Hoffnungen verbreitet, um die Leute ruhig zu halten. Aber unterschwellig begann die Repression. So sehe ich das. Ich glaube, dass nun ein System aufgebaut wird, um die Repression aufrechtzuerhalten. In Südamerika gab es überall starke Proteste, als die Pandemie begann, und meiner Meinung nach wird diese nun als Entschuldigung dafür gebraucht, diese Proteste zu unterdrücken. Die Pandemie ist gewissermassen der letzte Strohhalm, an dem sich die Regierungen halten. Sie benutzen dieses Problem, um alle anderen Probleme zu verschleiern. Auch die Medien berichten über nichts anderes mehr. 

Ich weiss nicht, ob ich von hier weggehen soll, weil es hier sicher ist. Aber irgendwo anders ist es vielleicht besser. Ich bin Peruaner, aus Lima, und meine Mutter, mein Bruder und mein Sohn warten dort auf mich. Weil ich keine offizielle Aufenthaltsbewilligung habe, ist es schwierig, mich in Kolumbien zu bewegen. Peruanerinnen und Peruaner brauchen kein Visum, um nach Kolumbien zu gehen, aber weil ich von Ecuador her über die Grüne Grenze nach Kolumbien gekommen bin, als die Grenzen offiziell schon geschlossen waren, habe ich keinen Stempel im Pass. Damit bin ich nicht offiziell eingereist und habe nichts vorzuzeigen, wenn mich die Polizei anhält. Zum Glück ist die Polizei in Cali sehr entspannt. Wenn sie mich anhalten, wollen sie meinen peruanischen Ausweis sehen und fragen nicht genau nach, ob ich legal oder illegal hier bin. Sie empfehlen mir nur, eine Maske zu tragen. Im Alltag ist es also nicht schlimm, illegal hier zu sein. 

“Weil in Peru der Lockdown beendet ist, denke ich, dass ich normal weiterreisen kann, sobald ich die Grenze überquert habe.”

“Weil in Peru der Lockdown beendet ist, denke ich, dass ich normal weiterreisen kann, sobald ich die Grenze überquert habe.”

Hingegen hindert mich der fehlende Aufenthaltsstatus daran, weite Strecken zu reisen. Im öffentlichen Verkehr braucht man wegen der Quarantäne Reisebewilligungen. Und um eine solche zu erhalten, müsste ich einen legalen Status haben. Also ist es nicht möglich für mich, einfach einen Bus zu nehmen und in eine andere Stadt zu fahren. Aber ich werde versuchen, per Anhalter weiterzureisen. Ich kenne viele Leute, die das gemacht haben. Obwohl es nicht erlaubt ist, eine unbekannte Person mitzunehmen, helfen dir einige, wenn sie sehen, dass du in Not bist, auf jeden Fall auf kurzen Strecken. Viele haben natürlich Angst, weil sie bei den vielen Kontrollposten der Polizei erwischt werden könnten. 

Aber wenn ich am Reisen bin und mich die Polizei anhält, habe ich einen Jocker: Ich sage, dass ich nach Hause will und kein Geld habe. Und weil ich ja nach Süden reise, ist das die perfekte Entschuldigung. Darum denke ich, dass die Reise nicht allzu schwierig wird. Ich habe auch keine Angst. Ich habe sogar mehr Angst davor, hier zu bleiben. Ich fürchte mich davor, hier steckenzubleiben. Ich habe Familie in Peru, die auf mich wartet. 
Weil in Peru der Lockdown beendet ist, denke ich, dass ich normal weiterreisen kann, sobald ich die Grenze überquert habe. Ich habe auch etwas Geld. Und auf dem Weg wird sich schon eine Lösung finden. Es ist besser, wenn ich versuche, ein bisschen vorwärts zu kommen. Wenn ich diesen Schritt jetzt nicht mache, wann dann? Ich warte hier schon seit vier Monaten auf das Ende der Quarantäne.
Die Quarantäne hat mir geholfen. Ich konnte meine Gedanken ordnen, mir klar werden, was ich will, und was in meinem Leben wichtig ist. Ich bin enger zusammengerückt mit meiner Familie und konzentrierte mich auf meine Arbeit.
Aber jetzt ist es Zeit zu gehen. 
Wenn ich gehe, werde ich mich nicht von meinen Bekannten hier im Hostel verabschieden.
Ich mag keine Abschiede.
Ich werde einfach so losgehen. 

“Wenn ich gehe, werde ich mich nicht von meinen Bekannten hier im Hostel verabschieden. Ich mag keine Abschiede.”

“Wenn ich gehe, werde ich mich nicht von meinen Bekannten hier im Hostel verabschieden. Ich mag keine Abschiede.”

“Ich werde einfach so losgehen.”

“Ich werde einfach so losgehen.”

Winterthur, Schweiz

Winterthur, Schweiz

Tuti Island, Sudan

Tuti Island, Sudan