WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Tuti Island, Sudan

Tuti Island, Sudan

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Bayan Ali, 21, Medizinstudentin

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster schaust?

Ich sehe schöne Niembäume.

Was hast du heute gefrühstückt?

Ich esse jeden Tag biologisches sudanesisches Essen. Aber es ist jeden Tag anders: Manchmal esse ich hausgemachten Yoghurt, Käse oder Bohnen, und trinke frischen Zitronen- oder Guavasaft. Die Früchte kommen direkt von den Bäumen im Garten.

Was vermisst du am meisten?

Dass ich ins Fitness-Studio gehen und meine Freunde aus dem Training und dem Studium treffen kann.

Was ist der wichtigste Gegenstand für dich?

Mein Laptop, denn damit kann ich Filme schauen und mich selbst unterhalten.

Bayan bei der Gartenarbeit vor dem Haus ihrer Tante.

Bayan bei der Gartenarbeit vor dem Haus ihrer Tante.

Telefonieren sei schwierig, sagt Bayan Ali. Die Stromversorgung und das Internet seien gerade so schlecht, in manchen Vierteln dauert die Unterbrechung von sieben Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags, in anderen dauert der Stromausfall von fünf Uhr nachmittags bis zwei Uhr morgens.

Also schicken wir uns Sprachnachrichten über Whatsapp hin und her.

“Die Situation ist wirklich schlecht. Schon nur unsere Handys aufzuladen, damit wir überhaupt mit jemandem kommunizieren können, dauert ewig. Wir können auch nicht einfach andere Leute besuchen und eine Powerbank ausleihen wegen der Ausgangssperre. Es fühlt sich an, als wären wir zehn Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Wenn dein Handy aus ist, dann musst du einfach damit leben, fertig.”

“Sorry, wenn es ein bisschen windig ist – ich bin gerade auf der Tuti Insel bei meiner Tante, meine Eltern sind in Saudi-Arabien. Auf dem Bild, das ich dir geschickt habe von mir, helfe ich ihr gerade im Garten.”

Tuti Island liegt mitten in der sudanesischen Hauptstadt, dort, wo sich der blaue und der weisse Nil treffen und umgeben von Khartoum im Süden, Omdurman im Westen und Bahri im Norden. 2008 wurde die Insel mit einer Brücke erschlossen – vorher war sie nur per Boot erreichbar.

“Im Moment reise ich hin und her, zwischen dem Haus meines Grossvaters im Khartoumer Stadtviertel al-Burri und dem Haus meiner Tante auf Tuti Island. Meistens bleibe ich an beiden Orten jeweils zwei, drei Wochen. Das Leben auf der Insel ist anders als in der Stadt, die Leute gehen früh schlafen und stehen früh auf, sie arbeiten auf dem Feld, die Nachbarn besuchen sich gegenseitig. Während des Lockdowns haben wir angefangen, den Garten neu zu bepflanzen. Wir haben alles abgeschnitten, was dort war, haben neue Blumen und Pflanzen und zwei Orangenbäume gesetzt.”

Picknick am Strand von Tuti Island

Picknick am Strand von Tuti Island

“Ich wache jeden Tag so um 11 oder 12 Uhr mittags auf. Danach bete ich, frühstücke mit meiner Familie und fange an zu lernen. Ich habe meine Bücher vom Studium hergeholt und wiederhole den Stoff – du weisst, Ärzte müssen alles immer alles wiederholen und auswendig wissen. Nach dem Lernen lese ich Bücher oder höre Musik. Am Nachmittag übe ich Seilspringen und helfe meiner Tante im Garten.“

Ich hatte Bayan vergangenen Dezember im Muqatel Trainingscenter in Khartoum kennengelernt. Sie war die erste sudanesische Frau, die für einen Kampfsport-Wettbewerb ins Ausland reiste. Sie kehrte mit einer Bronze-Medaille wieder zurück. Die Kampfsport-Frauen-Gruppe gibt es inzwischen seit anderthalb Jahren – als sie anfingen, war noch das Regime von Omar al-Bashir an der Macht und das Training illegal, schliesslich sind die Frauen mit ihrem Trainer, einem Mann, der nicht zur engen Familie gehört, zusammen in einem Raum.

“Natürlich bin ich noch im Kontakt mit den anderen Mädchen. Manchmal schicken wir uns gegenseitig Videos, damit wir üben können und uns gegenseitig motivieren. Ich vermisse sie sehr. Und ich vermisse es, ins Fitness-Studio gehen zu können.”

Der Sudan meldet bis jetzt 11'200 Menschen, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden, 708 Personen sind bisher daran gestorben. Die Situation ist schwierig: Schon vor der Pandemie ging das Land durch eine schwere Wirtschaftskrise – die Massenproteste, die im April 2019 zum Sturz des Regimes führten, wurden ursprünglich ausgelöst durch eine Erhöhung des Brotpreises. Weil das Land noch immer auf der US-Sanktionsliste steht als Staat, der Terrorismus unterstütze, ist die Aufrüstung des maroden Gesundheitssystems zur Vorbeugung der Pandemie schwierig. Hinzu kommt, dass zu Hause bleiben für viele Sudanesinnen und Sudanesen wegen ihrer wirtschaftlichen Situation keine Option ist.

“Du weisst, viele Leute arbeiten von Tag zu Tag. Du arbeitest, kriegst deinen Lohn und kaufst davon Essen für deine Kinder. Jemand, der genug Geld verdient, kann ohne Probleme sagen, ich bleibe zu Hause, damit ich niemanden anstecke. Aber die meisten können das nicht. Sie gehen raus, in den Stunden in denen sie rausdürfen, um Geld zu verdienen, bevor die Ausgangssperre wieder einsetzt. So verdienen sie zumindest ein bisschen Geld – und das muss dann reichen. Es gibt auch Leute, die glauben, dass es Corona gar nicht gibt. Es ist sehr schlimm.”

“Wir selbst gehen nicht viel raus. Aber wenn wir mal zum Supermarkt gehen, ist es, als ob es kein Corona gäbe: Niemand trägt eine Maske, niemand trägt Handschuhe. Die einen glauben nicht daran, die anderen haben keine Wahl, ausser raus zu gehen und zu arbeiten.”

“Auch die Wirtschaftssituation ist sehr schlecht. Alles ist teurer geworden wegen der Pandemie und dem Lockdown. Das heisst, jene Leute, die von Tag zu Tag ihr Geld verdienen, können sich kaum noch etwas leisten davon. Und die Preise steigen sehr schnell. Etwas, das gestern 10 Pfund gekostet hat, kostet heute vielleicht 30. Die Spitäler sind geschlossen, ausser für Notfälle. Wenn jemand ein Problem hat und ins Krankenhaus muss, wird er wieder nach Hause geschickt. Erst, wenn es richtig schlimm ist, darfst du rein.”

“Für mich selbst aber läuft es gut, auch in der Quarantäne. Ich habe nicht nur viel im Garten gearbeitet, sondern auch gelernt, neue Gerichte zu kochen. Und wir sind uns als Familie näher gekommen: Wenn du morgens aufwachst, und es hat keinen Strom, kannst du ja gar nichts machen. Du sitzt nur im Garten, hörst Musik, isst, redest mit deiner Familie. Wir waren uns schon vorher nahe, aber in diesen Wochen habe ich viele Dinge erfahren, die ich nicht wusste. Wir reden viel über die Zeit meiner Kindheit, oder wir reden darüber, wie sich der Sudan verändert hat. Wir reden darüber, wie mein Grossvater früher in verschiedene Länder gereist ist, und wie meine Eltern gelebt haben. Wenn du keinen Strom hast, springst du einfach von einem Thema zum nächsten. Manchmal reden wir auch einfach darüber, was in unserer Familie gerade aktuell ist, über unsere Tante und ihre Ehe zum Beispiel. Oder wir lachen einfach über früher. Meine Grossmutter sagt immer: "Deine Haare waren so weich". Sie weiss, dass ich meine Haare mit Produkten pflege, und sie neckt mich, indem sie sagt, dass ich früher als Kind gar keine Haare hatte.”

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Cali, Kolumbien

Cali, Kolumbien

Tel Aviv, Israel

Tel Aviv, Israel