WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Toronto, Kanada

Toronto, Kanada

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Markus Stadelmann-Elder, 54,
Direktor für Kommunikation


Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst? 
Es ist angenehm sonnig heute – ich habe grade meine Balkonpflanzen gewässert und sehe, wie sich eine neue Sonnenblume öffnet. Und wenn ich hochblicke, sehe ich ein Tal mit grünen Bäumen, ein paar Hochhäuser und den See. Es ist wirklich ein friedlicher, beruhigender Ausblick.

Die Aussicht von meinem Balkon, wenn gerade wieder die Sonne die Wolken durchbricht.

Die Aussicht von meinem Balkon, wenn gerade wieder die Sonne die Wolken durchbricht.

Was hast du heute gefrühstückt?
Müsli mit frischen Ontario-Erdbeeren, Blaubeeren und Bananen. Ich trinke jetzt meine zweite Tasse Kaffee.

Welches ist dein wichtigster Gegenstand?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen wichtigsten Gegenstand habe. Ich bin froh über die gute Kamera in meinem iPhone. Seit ich im "Lockdown" bin, habe ich viele Bilder geschossen und sie mit meiner Familie in der Schweiz und Deutschland geteilt. So kann ich jetzt ein Fototagebuch über mein derzeitiges Leben führen.

Was vermisst du am meisten?
Ein Café zu besuchen, in einem Park rumzuhängen, schnell noch in einen Laden zu gehen, um eine Zwiebel zu holen, die ich am Tag zuvor vergessen habe einzukaufen (und die ich heute Abend wirklich brauche, um ein leckeres Abendessen zu kochen). Und vor allem vermisse ich es, mich mit meiner Familie zu einem festlichen Abendessen zu treffen (weil es doch immer einen Geburtstag oder einen Schulabschluss zu feiern gibt).

Einer meiner Lieblingsorte in Toronto. Nach drei Monaten konnten wir endlich wieder an den  See fahren. Montags ist es sehr ruhig.

Einer meiner Lieblingsorte in Toronto. Nach drei Monaten konnten wir endlich wieder an den See fahren. Montags ist es sehr ruhig.

Gestern sind wir zum ersten Mal wieder zum See gefahren. Nach mehr als drei Monaten. Es war ein wunderbares Gefühl, am Strand entlang zu gehen, die Seebrise im Gesicht zu spüren, Kinder im Sand spielen zu sehen, auf einer Bank zu sitzen und ganz geruhsam Orangenscheiben zu snacken. Ja, ich habe diesen Ort vermisst; er ist einer meiner Lieblingsorte in Toronto - ein Ort zum Entspannen und einfach nur mal zu sein.
Als wir Mitte März in den "Lockdown" gingen, hätte keiner von uns gedacht, dass es so lange dauern würde, bis wir wieder zu dem zurückkehren, was wir heute als die "alte Normalität" bezeichnen. Wir dachten: "Och, vielleicht ein paar Wochen, im schlimmsten Fall einen Monat." Und jetzt sind bereits über drei Monate vergangen, und wir haben erst gerade einige Beschränkungen aufgehoben.
Die Zeit ist fliessend geworden. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, ob es Montag, Mittwoch oder Sonntag ist. Irgendwie fühlt sich alles sehr ähnlich an. Zumindest in mir drin. Es fällt mir schwer, mich an den April oder Mai zu erinnern. Ich weiss, dass ich diese Monate durchlebt habe, ich habe Fotos, die es beweisen. Und es gibt Dokumente auf meinem Computer, die zeigen, dass ich viel gearbeitet habe. Ich bin Kommunikationsverantwortlicher bei Maytree, einer in Toronto ansässigen Stiftung, die auf Armutsbekämpfung spezialisiert ist. Aber ich könnte niemandem sagen, was ich tatsächlich getan habe. Oder ob es in diesem oder einem anderen Monat war.
Damit bin ich nicht allein. Wenn ich mich mit Freunden zu Videokonferenzen treffe, erzählen sie von ähnlichen Erfahrungen. Wir lachen darüber - weil es lustig ist, wie viele von uns nach einem Kalender gelebt haben, der nicht mehr zu existieren scheint.

Die Zeit ist fliessend geworden. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, ob es Montag, Mittwoch oder Sonntag ist.

Aber wir funktionieren. Wir sind die Glücklichen. Wir haben einen angenehmen Raum, in dem wir uns isolieren können. Einen Ort, an dem wir unseren Computer aufstellen und arbeiten können. So viele andere hier in Toronto (und noch mehr auf der ganzen Welt) haben ihre Arbeit verloren und haben nun Angst, ihr Zuhause zu verlieren oder haben es bereits verloren (denn wie können sie die Miete oder ihre Hypothek bezahlen, wenn sie kein Einkommen mehr haben?); sie wissen nicht, wie ihre Zukunft aussehen wird.

Ein Blick auf unser Wohngebäude (das kleine, schmale in der Mitte). Am Morgen ist es immer sehr ruhig - eine schöne Zeit, um spazieren zu gehen und darüber nachzudenken, was der Tag bringen wird.

Ein Blick auf unser Wohngebäude (das kleine, schmale in der Mitte). Am Morgen ist es immer sehr ruhig - eine schöne Zeit, um spazieren zu gehen und darüber nachzudenken, was der Tag bringen wird.

Die Zahl der neuen COVID-19-Fälle in Toronto ist immer noch hoch. Am 16. Juni hatten wir 82 neu gemeldete Fälle, insgesamt sind das nun 13502, und sieben Menschen starben an COVID-19 - das sind 992 seit Beginn der Pandemie. In ganz Ontario wurden 34418 Fälle (heute 187) und 2596 Todesfälle (heute 16) gemeldet. Diese Zahlen sollten doch viel niedriger sein - drei Monate nach Bekanntgabe der ersten Beschränkungen. Wir sind verwirrt und besorgt und fragen uns, warum es nicht besser geworden ist. Ich schaue mir die Nachrichten an und sehe, wie das Leben in anderen Teilen unseres Landes zu einer "neuen Normalität" zurückkehrt. Wie Menschen in Europa einen Kaffee geniessen können. Warum nicht hier?
Auf dem Höhepunkt der Beschränkungen waren nur Lebensmittelgeschäfte und Apotheken geöffnet. Die meisten von uns verliessen unsere Häuser und Wohnungen kaum. Die Strassen waren unheimlich leer. Man sah kaum Autos; und Busse fuhren ohne Passagiere einfach nur hin und her. Als das Wetter schöner wurde, schloss die Stadt die Parkplätze in Parkanlagen, um zu verhindern, dass sich Menschen dorthin begaben. Es war eine extreme soziale Distanzierung. Also blieben wir in unserer Nachbarschaft und entdeckten neue Wege - sie sind wohl immer schon hier gewesen, aber vor dem Virus hatten wir sie nicht gekannt. Die letzten drei Monate haben mir eine ganz neue Welt gezeigt.

Der Lockdown gab uns die Gelegenheit, unsere Nachbarschaft neu zu erkunden. Ich habe einige wundervolle Wanderwege entdeckt.

Der Lockdown gab uns die Gelegenheit, unsere Nachbarschaft neu zu erkunden. Ich habe einige wundervolle Wanderwege entdeckt.

Ich vermisse meine Parks. Dieses Jahr konnten wir das Kirschblütenfest im High Park nicht feiern. Die Stadt zäunte das ganze Gelände ein - wir durften die Blüten nur über eine Webcam beobachten. Ein Parkangestellter führte uns durch die Landschaft. Wir konnten die Schönheit sehen. Wir konnten die Vögel im Hintergrund hören. Aber eben nur auf dem Bildschirm. Da kam wirklich ein leeres Gefühl auf.
COVID-19 ist jedoch mehr als nur eine persönliche Erfahrung. Die Pandemie hat die Ungleichheiten unserer Gesellschaft noch mehr hervorgehoben. Sie hat gezeigt, wie wenig wir viele unserer wichtigsten Arbeitskräfte berücksichtigen. Wir sind darauf angewiesen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Lebensmittelgeschäften zur Arbeit erscheinen (für sie gibts kein Homeoffice) - aber wir zahlen ihnen bloss einen Mindestlohn (der weit unter dem Existenzminimum liegt). Grosse Ketten gewährten ihnen für eine Weile eine Prämie - aber die wurde gerade wieder gestrichen, weil, wie ein CEO sagte, "es scheint, dass alles wieder normal geworden ist."
Wir sind auf überarbeitete Pfleger und Pflegerinnen in Altersheimen angewiesen, die unsere Eltern und Grosseltern betreuen. Aber auch sie erhielten meist keinen existenzsichernden Lohn, waren nicht voll angestellt in einem Heim und mussten in mehreren Pflegeheimen arbeiten, um über die Runden zu kommen (was wiederum zu einer weiteren Ausbreitung des Virus führte). In der Zeit, bevor COVID-19 über uns hereinbrach, schien sich niemand besonders dafür interessiert zu haben.

Grosse Ketten gewährten ihren Mitarbeitenden für eine Weile eine Prämie - aber die wurde gerade wieder gestrichen, weil, wie ein CEO sagte, “es scheint, dass alles wieder normal geworden ist.”

Auch ist die Auswirkung von COVID-19 nicht für alle gleich. In ärmeren Stadtvierteln, in denen die Menschen bereits vor der Pandemie viele Probleme hatten, sind die Fälle höher. Ein Grossteil der Erkrankten sind Personen mit Migrationshintergrund. Für sie hat das Virus eine ohnehin schon schlimme Situation noch schlimmer gemacht.
Und so, wie wir uns mit COVID-19 befassen, müssen wir uns auch mit einer anderen Pandemie auseinandersetzen. Mit einer Pandemie, die schon lange Teil unserer Gesellschaft ist; nur dass wir es bis jetzt vermieden hatten, darauf einzugehen: Der Rassismus gegen Schwarze und Indigene.
Zwar blickt die Welt derzeit gebannt auf die Geschehnisse in den Städten der USA, doch können wir nicht so tun, als ob die Dinge hier in Toronto, geschweige denn in ganz Kanada, besser wären. Zu oft werden junge schwarze Männer von der Polizei kontrolliert, nur weil sie dunkelhäutig sind und sich zufälligerweise in der Stadt aufhalten. Schwarze Kanadier und Kanadierinnen sprechen über Probleme bei der Wohnungssuche (wenn sie zu einer Besichtigung kommen, ist die Wohnung merkwürdigerweise plötzlich vermietet und nicht mehr verfügbar). Und sie sprechen von ihren negativen Erfahrungen bei der Arbeit, in der Schule und sogar beim Kleiderkauf.

Jetzt, da wir vom Übergang zu einer “neuen Normalität” sprechen, müssen wir die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft angehen.

Indigene Jugendliche begehen in so grosser Zahl Selbstmord, dass die Regierung für jede andere Gruppe Dienste eingerichtet und alles getan hätte, um zu verhindern, dass junge Menschen ihr Leben nehmen. In den letzten zwei Wochen wurden zwei Indigene von der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) erschossen, unter Umständen, die umstritten sind, und die noch untersucht und geklärt werden müssen. Nein, wir können nicht so tun, als wäre Rassismus für uns kein Problem.
Jetzt, da wir vom Übergang zu einer "neuen Normalität" sprechen, müssen wir die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft angehen. Und uns mit dem systemischen Rassismus befassen, der in unserer Gesellschaft existiert. Wir können diese beiden Pandemien nicht voneinander trennen. Die eine ohne die andere zu bekämpfen, wird uns nicht weiterbringen.

Wir haben das Glück, direkt neben dem japanisch-kanadischen Kulturzentrum zu wohnen. Hier fanden wir einige wunderschöne Kirschbäume und konnten so die Schönheit der Natur bewundern.

Wir haben das Glück, direkt neben dem japanisch-kanadischen Kulturzentrum zu wohnen. Hier fanden wir einige wunderschöne Kirschbäume und konnten so die Schönheit der Natur bewundern.

Ob ich daran glaube, dass COVID-19 die Art und Weise, wie wir leben, und wie wir als Gesellschaft funktionieren, positiv verändern wird? Ich bin mir nicht sicher. Ein Teil von mir wünscht sich wirklich, dass dies so ist. Ein anderer Teil, der schon so viele soziale Umwälzungen erlebt hat, zweifelt daran – ist vielleicht fatalistisch realistisch. Aber wenn genügend Menschen jetzt auf Veränderung pochen, wenn dieser Moment zu einer unaufhaltsamen Bewegung wird, dann kann vielleicht etwas Gutes aus dieser Pandemie hervorgehen.

Heute ist ein angenehmer Tag. 
Nur eine leichte Brise.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue nach draussen. 
Es ist still. 
Es ist kaum zu glauben, dass wir uns mitten in einer Pandemie befinden.

Ich liebe es, nach dem Regen von unserem Balkon über das Tal zu blicken.

Ich liebe es, nach dem Regen von unserem Balkon über das Tal zu blicken.

Nun, das bin ich auf einem unserer Wanderwege, nur wenige Minuten von unserer Wohnung entfernt.

Nun, das bin ich auf einem unserer Wanderwege, nur wenige Minuten von unserer Wohnung entfernt.

Markus Stadelmann-Edler

Sana'a, Jemen

Sana'a, Jemen

Manaus, Brasilien

Manaus, Brasilien