WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Sana'a, Jemen

Sana'a, Jemen

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Shyma, 43, Hausfrau und Lehrerin


Was hast du heute gefrühstückt?
Warmes, selbst gebackenes Fladenbrot, Bohnen, die ich mit Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Olivenöl gekocht habe, dazu roten Tee.

Was ist zu deinem wichtigsten Gegenstand geworden?
Meine Sonnencrème. Damit schütze ich meine Haut vor der Hitze, die beim Brotbacken in der Küche entsteht. 

Was vermisst du am meisten?
Im Haus meiner Eltern zu sein und ihnen bei den alltäglichen Arbeiten helfen zu können.

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Eine einsame Strasse aus Sand und Kies, Geröllhalden und ein paar dichte Bäume, hinter denen sich Häuser verbergen, und ich sehe ein paar Autos, die auf beiden Seiten der Strasse parkiert sind. Früher spielten hier draussen immer viele Kinder, ich hörte ihr Lachen und Kreischen.
Heute herrscht nur noch Stille.

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Im Jemen, so heisst es seit Jahren, spielt sich fernab jeglicher internationaler Aufmerksamkeit die schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt ab. Weit über 100’000 Menschen sind getötet worden in dem Krieg, der im Frühling 2015 losgebrochen ist, gut zwei Millionen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, viele leben zusammengepfercht in Flüchtlingslagern. 80 Prozent der Bevölkerung, etwa 24 Millionen Menschen, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, 14 Millionen haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Rund die Hälfte der Spitäler des Landes sind geschlossen oder kaputt gebombt. Krankheiten wie Cholera und Diphtherie verbreiten sich ungehindert. Doch trotz des Leidens der Zivilbevölkerung hat sich bis heute kaum etwas zum Besseren verändert. Es fehlt den Akteuren an politischem Willen, einen nachhaltigen Friedensprozess anzustossen. Zu sehr sind die Huthi-Rebellen, die mittlerweile von den iranischen Al-Quds-Brigaden und der Hizbollah unterstützt werden, sowie die internationale Militärkoalition unter der Führung Saudi Arabiens ineinander verkeilt, zu sehr wird Saudi Arabien noch immer mit westlichen Rüstungsgütern versorgt, zu lukrativ scheinen die Machtgewinne für die Rebellen, als dass sie geneigt wären, auf Bedingungen einzugehen; und im Süden des Landes tobt ein undurchsichtiger Krieg zwischen verschiedenen Stammesmilizen, zudem kämpfen Separatisten vom Südlichen Übergangsrat gegen die Truppen Präsident Hadis für einen unabhängigen Staat Süd-Jemen.

“Ich weiss nicht, was schlimmer ist: der Krieg oder dieser neue, unsichtbare Feind”

Lange Zeit schien es, als würde zumindest das Coronavirus den Jemen so lange wie möglich verschonen, denn das Land liegt weit entfernt an der Südspitze der arabischen Halbinsel und war schon vor dem Krieg schwer zugänglich. Nun ist es fast gänzlich abgeriegelt, der Flughafen der Hauptstadt Sana’a im Norden des Landes für den kommerziellen Flugverkehr geschlossen. Doch am 10. April 2020 wurde in der Provinz Hadramaut die erste Covid-19-Infektion bestätigt. Offizielle Zahlen vermeldeten am 23. Juni 996 Corona-Fälle und 226 Tote, aber diese Zahlen widerspiegeln wohl kaum das gesamte Ausmass der Infektionen. Denn Tests sind rar, zudem ist ein Grossteil der Bevölkerung nach den Jahren des Krieges so geschwächt, dass das Virus ein leichtes Spiel hat. Die UNO befürchten, der Jemen könnte gar Schauplatz einer der weltweit schlimmsten Ausbrüche werden. “Ich weiss nicht, was schlimmer ist”, sagt Shyma, “der Krieg oder dieser neue, unsichtbare Feind.”

Shyma backt jeden Morgen Brot in ihrer Küche. Dabei wird es so heiss, dass sie Sonnencrème benutzt, um ihre Haut vor der Hitze zu schützen.

Shyma backt jeden Morgen Brot in ihrer Küche. Dabei wird es so heiss, dass sie Sonnencrème benutzt, um ihre Haut vor der Hitze zu schützen.

Shyma lebt mit ihrer Familie in der 3-Millionen-Stadt Sana’a. Sie und ihr Mann gehören der spärlichen Mittelklasse an, sie haben beide Anglistik studiert, aus Liebe geheiratet und sind Eltern von fünf Kindern, vier Töchtern und einem Sohn. Der Junge wurde vor drei Jahren geboren, mitten in den Wirren des Kriegs. “It’s a war-baby”, hatte Shyma damals stolz gesagt. Ihr Mann war Personalverantwortlicher gewesen in einer internationalen Firma, sie hatte als Lehrerin gearbeitet; hatte in einem Kellergeschoss erwachsenen Frauen Lesen und Schreiben beigebracht und während des Kriegs weitergemacht, selbst dann, als ihr – wie den meisten Lehrerinnen und Lehrern – kein Lohn mehr ausbezahlt wurde, weil die Zentralbank von Sana’a nach Aden verlegt worden war. Irgendwann aber, weigerten sich die Schülerinnen ins Kellergeschoss zu kommen, denn für sie alle war der Weg zu gefährlich geworden - und letztlich auch für ihre Lehrerin.
Heute ist die Lage in Sana’a zwar einigermassen stabil, trotzdem begibt sich Shyma kaum mehr aus dem Haus, sie will keine Risiken eingehen. In Zeiten wie diesen erst recht nicht, da ihr nun das Virus einen zweiten Riegel vorgeschoben hat. “Wir leben quasi in einem doppelten Lockdown”, sagt sie. In ihrer Stimme schwingt weder Wut mit noch Resignation, sondern bloss nüchterne Gelassenheit.

“Ich habe praktisch rund um die Uhr zu tun, der Alltag hört ja nicht auf, und das ist wohl auch eine Gnade. Der Alltag hält mich aufrecht, er ist meine treibende Kraft.”

“Eben habe ich für meine Nachbarin, deren Mann letzte Woche an Covid-19 gestorben ist, Sabaya gemacht, ein jemenitisches Gebäck aus Blätterteigschichten und schwarzem Kümmel, das wir vor dem Essen mit Honig beträufeln. Eines ihrer Kinder wird gleich vorbeikommen und es abholen. 
Inzwischen hören wir täglich von Menschen, die sich mit dem Virus angesteckt haben. Das Gesundheitsministerium informiert aber bloss vage, und zu Infektionszahlen sagt es fast gar nichts, die meisten News und Updates erhalten wir auf unseren Social Media-Kanälen. Viele Familien haben sogar damit begonnen, den Tod ihrer Angehörigen online zu verkünden und auf Sozial Media um sie zu trauern. Todesanzeigen und Nachrufe auf Facebook sind zu einer neuen Normalität geworden.
Gestern erfuhr ich, dass auch einige meiner Verwandten am Virus erkrankt sind. Sie gehen zumindest davon aus, dass es Corona ist, denn sie haben alle entsprechenden Symptome. Sicher wissen werden sie es jedoch nie, denn in unserem Spital wird bis heute kaum getestet. Viele Pflegerinnen und Pfleger kommen erst gar nicht mehr zur Arbeit, aus Angst, sich anzustecken. Schwerkranke Patienten mit Verdacht auf eine Virusinfektion werden einfach zum Sterben nach Hause geschickt. Und das Gesundheitsministerium? Das unternimmt nichts gegen diese Misere. Im Gegenteil: Es hält Geschäfte, Märkte und Moscheen offen, während es Schulen und Universitäten schon vor Wochen schliessen liess. Das macht mich wütend. Warum bleiben ausgerechnet Moscheen geöffnet, wo man doch weiss, dass sich dort viele Menschen versammeln und dadurch das Virus verbreiten können? Mein Mann und ich beten längst zu Hause, aber mein Schwiegervater etwa, lässt sich nicht davon abbringen, viermal täglich in seine Quartier-Moschee zu gehen. Er könne sich daheim nicht konzentrieren, sagt er. Zudem ist er felsenfest davon überzeugt, dass ihm keine Krankheit etwas anhaben kann. Er glaubt sogar, dass das Virus im Grunde gar nicht existiert, sondern bloss leeres Geschwätz ist. Mit dieser Haltung steht er leider nicht allein da. Und das ist gefährlich. Inzwischen soll in Aden - zusätzlich zum Virus - auch noch die Lungenpest ausgebrochen sein, eine Krankheit, die viel schlimmer ist als Covid-19. Die Menschen sterben sehr schnell daran, manche gar innerhalb eines Tages.

Frisch gebackene Sabaya für die Familie eines Nachbarn, der an Covid-19 gestorben ist. Sabaya ist ein jemenitisches Gebäck aus Blätterteigschichten, das mit Honig gegessen wird.

Frisch gebackene Sabaya für die Familie eines Nachbarn, der an Covid-19 gestorben ist. Sabaya ist ein jemenitisches Gebäck aus Blätterteigschichten, das mit Honig gegessen wird.

Vorgestern habe ich mich seit Monaten wieder aus dem Haus gewagt. Die Kinder und ich haben meine Schwester besucht, die am anderen Ende der Stadt lebt, das war wundervoll, denn auch meine andere Schwester kam hinzu, wir waren alle sehr glücklich. Aber die Situation auf den Strassen war verrückt: Auf dem ganzen Weg sah ich nichts als lange Autoschlangen. Seit letzter Woche herrscht hier akuter Benzinmangel. Für 30 Liter muss man stundenlang anstehen, der Tank darf dann aber erst nach fünf Tagen wieder aufgefüllt werden. In der Nacht auf gestern ist in einem Quartier in Sana’a erst noch ein Feuer ausgebrochen - ausgerechnet im Haus eines Mannes, der mit Benzin gefüllte Fässer gehortet hatte, die er auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollte. Das Feuer griff im Lauf der Nacht auf mindestens sechs Häuser über. Verrückt.
Ansonsten gehe ich nicht aus dem Haus, nicht einmal zum Einkaufen, das hat mein Mann übernommen. Er geht täglich raus, während des Fastenmonats Ramadan hatte er uns allen sogar neue Kleider besorgt. Ich weiss, das hört sich nun vielleicht sonderbar an, aber ich liebe es, zuhause zu sein. Ich habe praktisch rund um die Uhr zu tun, der Alltag hört ja nicht auf, und das ist wohl auch eine Gnade. Der Alltag hält mich aufrecht, er ist meine treibende Kraft.

Ich backe frühmorgens Brot in meiner Küche, arabisches Fladenbrot. Und als mir meine Schwiegermutter ihre Pastamaschine vererbte, habe ich Nudeln und Spaghetti gemacht.

Jeden Morgen putze und wasche ich, wir haben ein grosses Haus, es sauber zu halten, erfordert viel Arbeit; Arbeit, die ja nie wirklich fertig ist, nicht selten muss ich wieder von vorne anfangen, denn mein Sohn verstreut seine Spielsachen gern auf allen Stockwerken, und beim Essen kippt er oft ein Glas um oder lässt seinen Löffel fallen. Auf dem Dach haben wir einen Tank, der etwa 2000 Liter Wasser fasst. Wasser ist zum Glück erschwinglich, das können wir uns noch gut leisten. Mehr Sorgen bereitet uns der Strom. Vor fünf Jahren haben wir Solarzellen auf dem Dach installiert, damit wir nicht mehr ganz so abhängig sind von der kommerziellen Stromversorgung. Wir benutzen die Solarenergie tagsüber für Licht, Fernseher und Handybatterien, nachts schalten wir auf den kommerziellen Strom um. Doch der reicht nicht sehr weit. Kochen tue ich mit Gas. Staubsauger und Bügeleisen benutze ich längst nicht mehr, die fressen zu viel Strom. Boiler und Kühlschrank haben wir ausgeschaltet. Weil wir nun keine Lebensmittel kühl lagern können, kaufen wir täglich kleine Mengen ein, die wir sofort konsumieren. Da wir bei allen Geräten sparen, kann ich dafür die Waschmaschine zweimal pro Woche laufen lassen. Ich habe stets Berge von schmutziger Wäsche - nicht auszudenken, wenn ich alles von Hand waschen müsste. Die Waschmaschine ist das wichtigste für mich.
Zum Lunch koche ich jeweils Hähnchen mit Gemüse, Porridge und Salat, und fast immer bereite ich auch Salta zu, ein traditionelles Gericht aus Fleischbrühe, Kartoffeln, Rühreier, Fenugreek (Bockshornklee) und Koriander, mein Mann liebt Salta, wenn es nach ihm ginge, käme es jeden Tag auf den Tisch. Aber ich muss genau kalkulieren, denn Lebensmittel sind sehr teuer geworden. Der Hafen in der Stadt Hodeidah, über den 90 Prozent der Waren importiert werden, wird noch immer hart umkämpft, das treibt die Preise in die Höhe. Es ist aber nicht so, dass die Märkte leer wären, nein, es gibt im Prinzip überall genug, das ist ja das Perfide, nur haben die Menschen kaum Geld, sich Lebensmittel zu kaufen. Ein halbes Hähnchen kostet 1500 jemenitische Rial, rund sechs US-Dollar. Wir drehen jeden Cent um, damit wir uns den Luxus des halben Hähnchens leisten können, grundsätzlich leben wir von Erspartem, greifen auf die finanzielle Hilfe von Freunden zurück oder machen Schulden. Früchte essen wir nur noch selten.
Natürlich versuche ich so gut es geht, uns auch selbst zu versorgen. So backe ich frühmorgens Brot in meiner Küche, arabisches Fladenbrot. Und als mir meine Schwiegermutter ihre Pastamaschine vererbte, habe ich Nudeln und Spaghetti gemacht. Wie ich herumexperimentierte, bis ich endlich die richtige Rezeptmischung gefunden hatte, das war gar nicht so einfach. Mit der Zeit wurde meine Pasta aber immer besser, irgendwann habe ich begonnen, sie in Tüten zu verpacken und sie an Nachbarinnen und Verwandte zu verschenken. Ja, ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mit der Pasta ein eigenes, kleines Business zu starten, doch dann bekam ich Rückenschmerzen von dieser ständig gebückten Haltung bei der Arbeit an der Pastamaschine und musste aufhören.

Shyma und ihre Töchter haben sich auf ihrem Dach einen verborgenen Garten geschaffen.

Shyma und ihre Töchter haben sich auf ihrem Dach einen verborgenen Garten geschaffen.

Nachmittags steige ich mit meinen Kindern auf unser Dach. Es ist ein Flachdach, mit einer Mauer umgeben, niemand kann uns sehen. Dort oben sind wir frei. Es ist unsere Oase. Wir haben das Dach mit Pflanzen und kleinen Tee-Tischen geschmückt, so haben wir uns einen Garten geschaffen. In den Stunden auf dem Dach lese ich. Derzeit bin ich am Buch “Man’s Search for Meaning” des österreichischen Psychiaters und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl. Und vor kurzem habe ich mir von meiner Schwester Agatha Christies “The Pale Horse” ausgeliehen. Meine Töchter hingegen verbringen viel Zeit am Handy, sind stundenlang auf Facebook und Instagram. Ich versuche sie zu motivieren, auch mal ein Buch zur Hand zu nehmen, für die Schule und Uni zu lernen oder zu malen, aber sie haben keine Lust dazu. Sie sagen, sie seien nicht in der Stimmung. Ich fürchte, die Eintönigkeit des Lockdowns setzt ihnen zu. Von überall her höre ich, dass Jugendliche depressiv werden. Es ist unfassbar, dass die Schulen geschlossen sind, dass es hier keinen Online-Unterricht gibt wie in anderen Ländern! Die Kinder haben nichts zu tun, haben keine Perspektive, sind einfach sich selbst überlassen. Ein Tag gleicht dem anderen, die Zeit tickt weg, zerrinnt, ist für sie verloren. Dies mitansehen zu müssen, macht mich traurig und wütend zugleich.
Doch denke ich nicht daran, die Hoffnung aufzugeben, geschweige denn, mich gehen zu lassen. Denn ich bin die Mutter. Und als Mutter ist es meine Pflicht, meine Familie dazu zu bringen, ihr Bestes zu geben, vorwärts zu kommen und sich weiterzuentwickeln. Ich tue alles, was in meiner Kraft steht, damit dies gelingt – auch wenn die Situation schwierig ist.

Als Mutter ist es meine Pflicht, meine Familie dazu zu bringen, ihr Bestes zu geben, vorwärts zu kommen und sich weiterzuentwickeln.

Um uns abzulenken, haben wir begonnen, Sport zu treiben. Wir trainieren Seilspringen. In unserem Wohnzimmer. Ja, echt, du hast richtig gehört. Seilspringen! Schon als Kind habe ich Seilspringen geliebt und hatte früher mal für meine Töchter und mich Springseile gekauft. Jetzt habe ich sie hervorgeholt. Wir laden täglich Übungen von Netz herunter und trainieren um die Wette. Ich hätte zwar gerne ein intensiveres Training; ich sehne mich danach, in ein Gym zu gehen oder wieder einmal im Meer schwimmen zu können, denn Schwimmen ist meine liebste Sportart. Aber immerhin haben wir unsere Springseile.
Und ich – ich werde von Tag zu Tag besser!”

Shyma in der Setara, ihre traditionellen Kleidung, die einst zum Stadtbild  Sana’as gehörte. Heute tragen die Frauen vornehmlich schwarze, graue oder beige Abayas.

Shyma in der Setara, ihre traditionellen Kleidung, die einst zum Stadtbild Sana’as gehörte. Heute tragen die Frauen vornehmlich schwarze, graue oder beige Abayas.






Emporia, Kansas, USA

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Toronto, Kanada

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