WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Manaus, Brasilien

Manaus, Brasilien

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Vívian Oliveira, 44, Sängerin

Was hast du heute gefrühstückt?

Ich habe Brot gegessen und Kaffee getrunken.

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster schaust?

Ich sehe unsere Pflanzen, sehe, wie unsere Ananas wachsen, ich sehe unsere Nachbarschaft, unsere Katzen im Hof. Wir haben neun Katzen. Unsere Babies. Wir sind zehn Leute und neun Katzen.

Was ist dein wichtigster Gegenstand?

(Ein lautes Geräusch dringt durch die Leitung) ...sorry, das ist die Stimme des Früchteverkäufers, der durch unser Viertel zieht. Und die Hunde, die mit ihm singen.

Meine wichtigsten Gegenstände sind das Handy, das Notebook und das Internet. Dank dieser drei Sachen sind wir immer noch in der Lage, unsere Arbeit zu zeigen. Die Leute wollen, dass es ihnen besser geht in diesen Zeiten. Wir helfen ihnen dabei.

Was vermisst du am meisten?

Ich vermisse es, Menschen in unserem Haus zu haben. Ich vermisse die Veranstaltungen, die Musik in unserem Hinterhof, die glücklichen und fröhlichen Menschen.

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Am 25. Februar meldete Brasilien die erste Ansteckung mit dem Coronavirus. Zur selben Zeit tat der brasilianische Präsident die Pandemie noch als “Fantasie” ab, verglich sie mit einer harmlosen Grippe und prognostizierte, das Land würde diese “Grippe” rasch wieder loswerden. Doch das Gegenteil geschah: Bis heute wurden über 85'0’000 Ansteckungen und mehr als 40’000 Todesfälle gemeldet. Brasilien verzeichnet damit die zweithöchste Zahl an positiv Gestesteten nach den USA.

Auffallend schlimm wütet das Virus in den Amazonas-Gebieten. Viele Ureinwohnerinnen und Ureinwohner sind besonders gefährdet für ansteckende Krankheiten, weil ihr Immunsystem kaum darauf vorbereitet ist. Die Todesrate unter den indigenen Gemeinschaften ist denn auch erschreckend hoch: Neun Prozent der Infizierten sterben an der Krankheit.

Die Sängerin Vívian Oliveira lebt in Manaus, der Hauptstadt des brasilianischen Amazonasgebiets. Hier erzählt sie vom Alltag in der Stadt und in ihrem Haus, in dem sie zusammen mit neun weiteren Künstlerinnen und Künstlern seit einem Jahr lebt.

"Im Moment kann ich mich kaum auf meine Kunst konzentrieren. Ich komponiere nichts, stattdessen nutze ich die Zeit, um mich um die Pflanzen zu kümmern oder zu lesen. Gerade habe ich "1984" von George Orwell angefangen. "Animal Farm" – "A Revolução dos Bichos" auf Portugisisch – habe ich bereits durch. Es ist so echt! Wir können sehen, wie einige Dinge genauso passieren auf der Welt, wie einige Tiere sich einen Vorteil verschaffen auf Kosten anderer, sie ausnutzen und lügen, das ist es doch, was heute mit unserer Regierung passiert oder mit Donald Trump in den USA.

Unser Präsident hilft den Leuten nicht. Deswegen sehen wir immer mehr Leute, die an COVID-19 sterben. Besonders die indigenen Menschen sind betroffen. Sie leben oft weit weg von Manaus, aber wenn sie krank sind, müssen sie hierher zur Behandlung kommen. Doch von ihren Dörfern bis in die Stadt kann es zwei bis drei Tage dauern, weil sie die Reise mit dem Boot machen müssen.

In Manaus gibt es keine Ausgangssperre. Nur die Empfehlung, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben. Doch die Leute halten sich nicht daran, jedes Mal, wenn ich rausgehe, sehe ich viele Menschen auf den Strassen. Natürlich, die meisten von ihnen unterstützen unseren Präsidenten Jair Bolsonaro, sie haben ihn gewählt, weil sie enttäuscht waren von Lula da Silva und seiner linken Partei, nachdem rauskam, dass diese in Korruption verwickelt war, und wenn jetzt Bolsonaro sagt, dass es nicht so wichtig ist, zu Hause zu bleiben, dann werden die Leute das auch nicht tun. Die meisten glauben ihm – und deswegen sterben jetzt so viele.

Die Ansteckungen steigen noch immer. Trotzdem hat die Regierung beschlossen, die Geschäfte wieder zu öffnen. Wir, in der "Vila Vagalume", fürchten uns davor, diesen Schritt zu früh zu tun. Wir haben entschieden, unser Haus noch geschlossen zu halten. Es ist einfach zu gefährlich, für uns, für unsere Freundinnen und Freunde, für unsere Kundinnen und Kunden.

Die Vila "Vagalume" ist das Haus, in das ich und neun weitere Kunstschaffende vor einem Jahr gezogen sind. Wir sind Sängerinnen und Sänger, eine Schauspielerin und Malerin, ein Perkussionist, ein Gitarrist. Wir dachten, es sei eine gute Idee, um unsere Kunst zu leben. Unser Ziel ist es, die Einstellung der Leute zu uns Künstlerinnen und Künstlern zu verändern. Die Zeit in der Isolation zeigt doch gerade, wie wichtig Kunst ist: Die Leute schauen Filme, hören Musik, lesen Bücher, um sich abzulenken und sich zu unterhalten.

Künstlerinnen und Künstler haben es schwer in Brasilien, und in Manaus haben sie es speziell schwer. Die meisten Menschen hier anerkennen nicht, dass Kunst ein richtiger Beruf ist. Sie denken, dass wir einfach nicht arbeiten wollen. Und wir sind hier weit weg von den anderen grossen Städten, von Rio de Janeiro und Sao Paulo im Süden des Landes. Diese geografische Isoliertheit der Stadt ist ein Nachteil für uns.

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Die Villa besteht aus zwei Häusern, dazwischen haben wir einen grossen Innenhof. Dort finden normalerweise Veranstaltungen statt. Dort wachsen auch unsere Pflanzen: Ananas, Tomaten, Basilikum, Kohl, ein paar Pflanzen für Tee. Einige davon verkaufen wir, die anderen brauchen wir für uns selbst. Als wir hierher gezogen sind, haben wir ein Restaurant eingerichtet, wir organisieren Ausstellungen, Theaterstücke und Konzerte. Wir bieten Gesangsunterricht an, Stretching- und Yogaunterricht, und wir haben die Erde in unserem Garten.

Schon als Kind wusste ich, dass ich Musikerin bin. Aber meine Eltern sahen darin keine Perspektive. Bis ich vierzig war, arbeitete ich in der Industriezone von Manaus. Dann entschied ich mich, meinen Job zu kündigen, 2016 war das. Seither bin ich Sängerin in der Band "Gramophone" und Komponistin. Ich bin eine schwarze Frau und eine indigene Frau. Mit meiner Musik hoffe ich, meinen Leuten zu helfen. Ich nutze meine Stimme, um eine Botschaft zu vermitteln, um zu zeigen, wie die Situation meiner Leute ist. Das ist Kunst für mich: ein Weg, Minderheiten eine Stimme zu geben, zu verstehen, warum wir leiden. Meine Musik ist eine politische Botschaft für Gleichheit und Gewaltlosigkeit.

Die Musik ist das Wichtigste für mich. Heute lebe ich davon, und ich habe diese Entscheidung nie bereut. Ich bin glücklich, weil ich hier in diesem Haus wohnen und mich einfach meiner Kunst widmen kann. Das ist mein Beitrag an meine Gesellschaft.

Heute, in der Isolation, sind wir in unserem Haus auf das Internet angewiesen, um unsere Kunst weiterhin zeigen zu können. Es wurde überlebenswichtig für uns: Veranstaltungen, die wir normalerweise live hier aufführen, machen wir nun online. Wir haben einen Wochenkalender für den Stretching- und Yogaunterricht, die Musikvorführungen.

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Trotzdem haben wir keine Ahnung, wie wir jetzt überleben sollen, wie wir Geld verdienen und unsere Rechnungen bezahlen können. Viele der Leute, die regelmässig in die Villa kommen, unterstützen uns, sie schicken uns Geld oder Lebensmittel. Aber diesen Monat reichen unsere Mittel nur, um Essen zu kaufen und das Internet zu bezahlen. Für alles andere fehlt das Geld, auch für die Miete. Wir müssen mit dem Vermieter schauen, dass wir eine Lösung finden.

Deswegen kann ich im Moment nichts komponieren. Ich versuche nur, diese Zeit zu überstehen. Ich bin glücklich, und gleichzeitig mache ich mir Sorgen. Ich weiss nicht, was mit diesem Haus passieren wird, mit uns, mit dieser Pandemie. In den Nachrichten habe ich gehört, dass das normale Leben nicht vor dem nächsten Jahr zurückkehren wird. Und wir sind erst halb durch mit diesem.

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In der Isolation haben ich und meine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner lernen müssen, uns gegenseitig zu verstehen. Wir reden heute mehr miteinander, und ich glaube, unsere Freundschaft ist gewachsen. Gemeinsam überlegen wir, wie wir es schaffen, auch in Zukunft in diesem Haus zu leben – selbst wenn wir gerade nicht wirklich arbeiten können.

Im Moment bereiten wir eine Show mit Theater und Musik vor, die wir Ende Juni online präsentieren. Darin zeigen wir eine Theaterintervention und spielen traditionelle brasilianische Musik. Es hilft unserer Psyche, kreativ zu sein in diesen Zeiten, hilft uns, zu überleben. Wir wollen für die Leute da sein. Und ihnen die Botschaft vermitteln: Alles wird gut.”

Toronto, Kanada

Toronto, Kanada

Srinagar, Jammu und Kaschmir

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