Srinagar, Jammu und Kaschmir
Anees Zargar, 31, Journalist
Was hast du heute gefrühstückt?
Tee!
Wir kaufen im Moment kein Brot von unserem Bäcker wegen des Virus. Also machen wir Wasserpfannkuchen zu Hause.
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Alles ist geschlossen. Erkennbar wird für mich ein Ort erst dann, wenn Menschen in ihm unterwegs sind. Daher ist es im Moment schwierig für mich, draußen etwas zu sehen.
Was vermisst du am meisten?
Ohne Nachzudenken vor die Tür zu gehen. Einfach so rauszuschlendern.
Bei der Frage, was ihn in der Zeit der Ausgangsbeschränkung am meisten beschäftigt, lacht Anees. „Welche Beschränkung meinst du jetzt? Die seit August, die seit der Pandemie oder die, überhaupt in Kaschmir zu leben?”
Seit 310 Tagen müssen die Bewohner von Srinagar zu Hause bleiben. Das sind zehn Monate und fünf Tage. Der Journalist Anees Zargar lebt im indischen Teil Kaschmirs, in der Verwaltungshauptstadt Srinagar. Hier hatte die Landesregierung ihren Sitz im Sommer, während sie im Winter in Jammu tagte. Bis im Sommer letzten Jahres behielt die Region ihren Sonderstatus bei. Am 5. August wurde er von der Führung in Neu Delhi gestrichen. Kurz darauf gab es heftige Proteste in der Region. "Stoppt den Völkermord in Kaschmir, Welt, wach' auf", riefen die Demonstranten. Mit äußerster Gewalt gingen Polizei und Militär gegen sie vor. Anwältinnen, Journalisten und Aktivistinnen wurden verhaftet, sagt Anees. „Keiner sprach mehr laut am Telefon, die Studenten konnten nicht mehr an die Uni gehen.“ Die Bewohner Srinagars wurden unter strengen Hausarrest gestellt.
Auch das High-Speed-Internet wurde letzten Sommer gekappt, ganz zu Beginn der Ausgangssperre im August sogar die Telefonnetze. Heute lädt jede Internetseite nur sehr langsam, die meisten sind blockiert. Alle paar Minuten friert das Skype-Gesicht in wilden Grimassen auf dem Bildschirm ein.
„Zwischendurch durften wir immer mal wieder raus,“ sagt Anees, „doch mit Corona hatte die Regierung einen Grund, alle einzusperren.“ Die leeren Straßen und die heruntergelassenen Rollos sind in Sringarar zum Normalzustand für die Bewohnerinnen geworden. „Für Corona waren wir sozusagen schon in der Übung,“ sagt Anees, „zu einem hohen Preis.“
Die Isolation hat schwerwiegende Folgen für jede Familie in seiner Nachbarschaft, nur wenige können noch zur Arbeit gehen. „Langsam leben alle nur mehr vom allerletzten Geld, das sie gespart haben.“
Jeder Tomatenkauf wird zum Spießrutenlauf. „Man weiß nicht, ob man noch zum Gemüsemann durchkommt, oder ob das Militär den Checkpoint wieder verschoben hat”, sagt Annes. “Von einem Moment auf den nächsten kannst du verhaftet werden. Nur die indischen Soldaten dürfen sich frei bewegen. Letzte Woche sah ich einen Mann vor einem Laden rauchen und Bananen kaufen, danach wurde er verhaftet. Was dann mit ihm passiert ist, weiß keiner.“
Manchmal kann Anees mit einer Sondergenehmigung als Journalist raus, um zu berichten. Kein einfacher Beruf. Im April wurde eine Photojournalistin wegen regierungskritischer Social Media-Posts angeklagt. Sieben Jahre kann sie für einen Facebook-Post ins Gefängnis gehen müssen. „Als Journalist ist neben dem Stift vor allem die Angst ein ständiger Begleiter,“ sagt Anees, „ich kann nicht einfach bei den Menschen anklopfen oder einen Interviewtermin bei einem Minister vereinbaren.“ Er muss immer andere Wege finden, um mit den Menschen zu sprechen. Am Telefon, über die Familie, in der Alltagsbeobachtung.
Annes schreibt trotzdem weiter. Über die Polizeigewalt. Über die Schikanen, denen Ärzte und Krankenschwestern bei ihrer täglichen Arbeit ausgeliefert sind und darüber, wie Grundschüler von Lehrerinitiativen über WhatsApp unterrichtet werden.
Anees lebt mit seinen Eltern zusammen. Die Gedanken der Familie drehen sich im Kreis. An manchen Tagen kann ein Film den Kopf kurz zum Pausieren bringen. Ist das Internet gut, lädt Anees von morgens bis abends einen Film hinunter, den er abends auf Netflix sehen kann. „Wenn es klappt, ist der Abend gerettet,“ sagt er lachend. Wann er das nächste Mal vor die Tür gehen kann, das weiß er noch nicht.
Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es 1900 registrierte Fälle in Jammu und Kaschmir. Neununddreißig Menschen sind am Virus gestorben. „Für mich ist es das erste Mal, dass ich eine solche globale Gesundheitskrise erlebe,“ sagt Anees. „Im Gegensatz zu den Monaten der Ausgangssperre zuvor, sitzen nun auch Freunde im Rest der Welt zu Hause und starren auf ihr Handy. Die Bewegungslosigkeit ist auf einmal zur globalen Erfahrung geworden. Das kommt in dieser Welt nicht oft vor.“