Firoz koh, Afghanistan
Abed Azimi, 37, Planungsberater
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Das kommt darauf an, wohin ich blicke. Schaue ich nach links, sehe ich direkt auf das rostbraune Tor meines Nachbarn. Morgens, wenn ich am Fenster stehe und meine erste Tasse Tee trinke, winken wir uns manchmal zu. Schaue ich jedoch nach rechts, sehe ich bloss Stille. Und ich sehe kleine Gruppen von Bäumen, Lehmhäuser, langgezogene Hügel, und ganz hinten, am Horizont den Bayan Pass, der noch immer schneebedeckt ist.
Was hast du heute Morgen gefrühstückt?
Spiegeleier, Ziegenkäse, Tomaten, Konfitüre, Fladenbrot, dazu Grüntee
Welches ist dein wichtigster Gegenstand?
Meine beiden Laptops.
Was vermisst du am meisten?
Besuche bei meinen Eltern und besten Freunden. Ich habe sie seit Wochen nicht mehr gesehen.
Abed Azimi lebt mit seiner Familie in Firoz koh, der Hauptstadt der Provinz Ghor im Nordwesten Afghanistans. Die Stadt, auch Chaghcharan genannt, nach ihrem alten persischen Namen, liegt auf über 2200 Metern Höhe am südlichen Ufer der Hari Rood Flusses, umsäumt von den Gipfeln des Bayan-Massivs, ihre Bevölkerung ist mittlerweile auf 31266 Einwohner angewachsen. Abed arbeitet für eine amerikanische Firma, die auf den Aufbau lokaler Infrastrukturen spezialisiert ist. Er berät sie bei Projekten, entwickelt die Jahresplanung und ist unter anderem in eine neue Strategie zur Drogenbekämpfung involviert. Noch bis vor wenigen Jahren hatte er die Zweigstelle einer NGO geleitet, die jungen Frauen Praktika in privatwirtschaftlichen Unternehmen ermöglicht. Er tat dies, weil er überzeugt davon ist, dass sich seine Gesellschaft nur vorwärts bewegen kann, wenn Frauen die gleichen Chancen erhalten wie Männer, auch auf dem Arbeitsmarkt. Doch sein Engagement war Warlords und religiösen Extremisten derart ein Dorn im Auge, dass er sich irgendwann gezwungen sah, das Projekt abzugeben. Die ständigen Drohungen hatten ihn mürbe gemacht. “Warlords mögen es nicht, wenn Männer Frauen unterstützen”, sagt Abed trocken. Das hindert ihn jedoch nicht daran, die Gleichstellungsfrage im Auge zu behalten. An jedem Projekt, das er heute in Planung gibt, müssen mindestens zwanzig Prozent Frauen beteiligt sein. So will es auch seine Firma.
Abed hat sich in einer Ecke seines Wohnzimmers das Homeoffice eingerichtet, denn es ist derzeit verboten, ins Büro zu gehen. Seine Utensilien: zwei Laptops, ein Notebook, sein persönliches iPad. Als wir einander über Skype begegnen, ist er mit seinem 6-jährigen Sohn und der eineinhalb-jährigen Tochter allein zuhause, seine Frau ist eben mit dem jüngsten Kind zu ihren Eltern gefahren. Vor vier Wochen hat sie einen zweiten Sohn geboren, ein «Corona»-Baby, wie Abed schmunzelnd sagt. Nun ist sie für drei Monaten im Mutterschaftsurlaub, das Timing hierfür könnte nicht besser sein. Denn auch in Afghanistan hat die Pandemie das Leben grösstenteils lahmgelegt.
Am 24. Februar wurde in Herat der erste Fall bestätigt. Offizielle Zahlen sprechen - Stand 5. Juni 2020 – von landesweit 18059 bestätigten Infektionen und 300 Toten, die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen. Inzwischen sind selbst hochrangige Taliban-Führer an Covid-19 erkrankt. Sie lassen sich in Pakistan behandeln. In Firoz koh sind erst 55 Menschen positiv auf das Virus getestet worden, um bereit zu sein für einen Anstieg der Infektionen, ist unmittelbar neben dem Provinzspital eine Covid-19-Abteilung mit 50 Betten und fünf Beatmungsgeräten errichtet worden. Noch scheint die Lage stabil, und bis zu diesem Zeitpunkt hat die Stadt noch keine Corona-Toten zu beklagen, trotzdem hat ihr die Regierung einen Teil-Lockdown verordnet: Seit gut zwei Monaten sind Schulen, Läden, Cafés und Restaurants geschlossen, Regierungsstellen und Banken bloss von 8 Uhr morgens bis 13 Uhr geöffnet, ganztags offen haben nur Apotheken, Bäckereien, Früchte- und Gemüsemärkte - und Moscheen. Immerhin, so Abed, befolgen die Betenden das Gebot des Social Distancing, ein Zeichen, dass das Virus ernst genommen wird, auch wenn die Menschen in Ghor nach einer anfänglichen Schockstarre immer weniger Angst haben vor einer Ansteckung. «Nein, wir fürchten uns nicht vor dem Virus», sagt Abed. «Wir fürchten uns vor den Kämpfen mit den Taliban. Das sind die wirklich tödlichen Viren.»
Zu Beginn der Pandemie war die Sicherheitslage in der Provinz Ghor noch gut gewesen, eigentlich so gut wie selten zuvor, Abed sagt, sie war fast schon perfekt. Die Taliban hatten sich in die Dörfer zurückgezogen, weit weg vom Zentrum. Sie eroberten zwar einen Highway und zerstörten eine Brücke, aber sie waren so mit dem Virus beschäftigt, mit dieser neuen Gefahr von aussen, dass sie sich vom Kämpfen ablenken liessen. Mehr noch, sie zeigten sich sogar bereit, mit den lokalen Gesundheitsbehörden zusammenzuarbeiten. Das taten sie natürlich vor allem deshalb, weil es in erster Linie ihren eigenen Interessen diente, betreiben sie doch Gesundheitszentren in ihren Herrschaftsgebieten. Die Menschen in Ghor zweifelten denn auch keine Sekunde daran, dass die Taliban die Kämpfe wieder aufnehmen würden, sobald die Corona-Pandemie abflacht. Aber dieser Wille zur Kooperation liess vorsichtige Hoffnung aufkeimen; Hoffnung darauf, dass es vielleicht doch noch zu einem Friedensschluss kommen könnte zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul.
Frieden wäre so bitter nötig, nach all den Jahren des Kriegs, und gerade jetzt, da sich die wirtschaftliche Lage im Zuge des Lockdowns zusätzlich verschärft. Unzählige Menschen haben ihren Job verloren, haben kein Einkommen mehr, kein Geld, um sich Essen zu kaufen, viele Familie sind von Hunger bedroht. Während des Ramadans, erzählt Abed, erhielt die afghanische Regierung Nahrungsmittelspenden von Katar. Allein in Ghor bewarben sich 10'000 notleidende Familien um eines dieser Lebensmittelpakete, ein Komitee wählte dann aus diesen Bewerbungen 1500 Familien aus. Das führte zu Unruhen, denn die Auswahl wurde als ungerecht empfunden; es kam zu Demonstrationen und Ausschreitungen vor dem Regierungsgebäude in Firoz koh. 5 Menschen starben, 19 wurden verletzt.
Er habe das Privileg, zuhause bleiben zu können, sagt Abed. Klar, er gehe einkaufen, abends mal zwei Kilometer Joggen, manchmal nehme er sogar an offiziellen Anlässen teil, hauptsächlich aber spiele sich sein Leben innerhalb der eigenen vier Wände ab. Er tollt mit den Kindern herum, versucht, mit seinem ältesten Sohn etwas zu lernen, oft kocht die Familie auch zusammen. Kebab und Omeletten, am liebsten aber Qabuli Palau, ein traditionelles afghanisches Gericht aus gedämpftem Reis, Zwiebeln, Karotten, Rosinen und Kardamom. Das Qabuli lenkt nicht zuletzt auch davon ab, dass sich die Sicherheitslage schneller als befürchtet wieder verschlechtert hat.
Mitte Mai sprengte sich in der Provinz Nangarhar, im Osten des Landes, an einer Beerdigung ein Selbstmordattentäter in die Luft. Er riss 24 Trauergäste mit sich in den Tod. Fast gleichzeitig stürmten Angreifer, als Polizisten und Mediziner verkleidet, die Entbindungsklinik von Médecins Sans Frontières in Kabul, erschossen mindestens 24 Menschen, darunter Mütter auf der Geburtenabteilung, Krankenschwestern, Babys. Unfassbar. Diese entsetzliche Tat hat ihre Herzen gebrochen, sagt Abed, es war ein schwarzer Tag für Afghanistan. Noch heute weiss man nicht, wer hinter diesen Attentaten steckt. Niemand hat sich dazu bekannt. Die Taliban weisen jegliche Schuld von sich. Laut des Verteidigungsministeriums soll der afghanische Ableger des IS, der “Islamic State Khorsan Province”, IKSP, verantwortlich dafür sein. Der IKSP und die Taliban kämpfen um die Vormachtstellung am Hindukusch. Gemäss des Magazins “Foreign Policy” soll es zur Taktik der IKSP gehören, gezielt Misstrauen zwischen Kabul und den Taliban zu säen, um jegliche Friedensbemühungen zu unterminieren.
Es scheint, als hätte dieser schwarze Tag die Schleusen, die den Terror für kurze Zeit zurückgehalten hatten, erneut geöffnet. Denn nur kurz darauf wurden in der Provinz Ghor drei von Abeds engsten Freunden von den Taliban getötet, als sie ausserhalb der Stadt am Hari Rood Fluss ihre Autos wuschen. Sie wurden ermordet, weil zwei von ihnen den lokalen Sicherheitskräften angehörten. Die Taliban sind unberechenbare Tyrannen, meint Abed, du weisst nie, wann sie angreifen. Ein Menschenleben bedeutet nichts für sie, gar nichts. Die Lage wird immer angespannter in Ghor. Die Pandemie-bedingte Arbeitslosigkeit lässt viele Menschen verzweifeln, sie warten auf Unterstützung von der Regierung, doch während sie warten, steigt die Kriminalität, Plünderungen nehmen zu. Abed hofft, dass sich die Situation bald verbessert, dass er und seine Familie trotz allem eine Zukunft haben werden in Afghanistan, und dass Afghanistan eine Zukunft haben wird, denn er liebt sein Land und ist stolz darauf. Noch hofft er auf Frieden - besonders auch darauf, dass das Virus die Taliban und den IS aus Afghanistan vertreiben wird. Ein für allemal.