WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Santiago de Chile, Chile

Santiago de Chile, Chile

Der Blick aus Rebecas Fenster. In der Quarantäne würden die Leute zu Spionen, sagt sie. Hinter dem Balkon über der Regenboggenflagge etwa lebt ein Paar, das sich einmal so heftig gestritten hatte, dass sie die Fenster zerschlugen.

Der Blick aus Rebecas Fenster. In der Quarantäne würden die Leute zu Spionen, sagt sie. Hinter dem Balkon über der Regenboggenflagge etwa lebt ein Paar, das sich einmal so heftig gestritten hatte, dass sie die Fenster zerschlugen.

Rebeca Chacón Pabón, 30, Filmproduzentin

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?

Von meinem Fenster aus? Zufälligerweise sitze ich gerade am Fenster… Aber ich sehe immer dasselbe. Einen Teil der Anden-Gebirgskette, zumindest, wenn es keinen Smog hat. Jetzt, wo ich Zeit habe, schaue ich mir die Berge immer an, vor der Quarantäne habe ich sie gar nicht gesehen. Dann sehe ich die gegenüberliegenden Wohnblöcke, die Fenster der anderen Leute. Während der Quarantäne wird man ja zum Spion, alle schauen ständig zu ihren Fenstern raus. Ich zumindest bin zur Spionin geworden. Zum Beispiel: Ich weiss genau, dass in der Wohnung gegenüber ein Mädchen wohnt, das immer um acht Uhr aufsteht und sich vor den Fernseher setzt; in einer anderen Wohnung leben zwei ältere Menschen, die immer am Nachmittag auf ihrem Balkon sitzen, wenn sie Sonne haben. Wir haben Sonne am Morgen, sie haben Sonne am Nachmittag. Es ist ein supersüsses, älteres Ehepaar. Manchmal essen sie Fleischspiesschen und trinken Pisco, den chilenischen Traubenschnaps.

Was hast du gefrühstückt?

Arepa, typisch venezolanische Maisfladen. Die essen wir immer zum Frühstück.

Was ist dein wichtigster Gegenstand?

Der Computer… Oder das Handy? Schwierig. Nein, es muss doch der Computer sein, er ist der Gegenstand, durch den ich mich mit der Welt verbinden kann. Er ist mein Fenster. Obwohl, das echte Fenster ist in dieser Zeit natürlich auch wichtig geworden… Nein, vergiss es, der Computer ist der wichtigste Gegenstand.

Was vermisst du am meisten?

Die Freiheit, mich in Ruhe mit Menschen zu treffen, und keine Angst vor Kontakt zu haben. Wir sind es gewohnt, uns zu umarmen, uns zu küssen… Vor kurzem kam ein Freund vorbei, und es ist einfach nur seltsam, sich mit dem Ellbogen zu begrüssen.

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«Von meinem Fenster aus sehe ich die Strasse nicht. Erst, wenn ich aus dem Haus gehe, merke ich, dass viel weniger Menschen draussen sind. Ich habe auch bemerkt, dass jedes Geräusch viel stärker zu hören ist als sonst, weil der Alltagslärm so sehr zurückgegangen ist. Es wird angenommen, dass wegen der Quarantäne häusliche Gewalt und Femizide zugenommen haben. In einem Wohnblock, der nicht mal so nahe von mir ist, höre ich manchmal ein Paar laut streiten. Als sie das erste Mal stritten, haben sie ihr Fenster kaputtgeschlagen. An dem Tag sind alle Nachbarn am Fenster gestanden, um zu schauen, was passiert. Aber niemand hat etwas gemacht. Weil alle natürlich hofften, dass jemand anders handeln würde. Ich hoffte auch, dass jemand, der näher wohnt, etwas tun würde, ich bin hier ja etwas weiter weg. In dem Moment dachte ich, dass wir so alle Komplizinnen und Komplizen dieser Gewalt werden.

Am 3. März wurde der erste Corona-Fall in Chile registriert, aber niemand hat das ernstgenommen, nicht einmal die Regierung. Danach häuften sich die Fälle, vor allem in Santiago, und dann begannen einzelne Quartiere, eine Quarantäne zu verordnen. Die Regierung hat erst vor drei Wochen einheitliche Massnahmen für ganz Santiago verhängt. Heute gibt es fast 100’000 gemeldete Infizierte.

Als die lokalen Quarantäneverordnungen begannen, bekamen die Leute Angst und kauften wie die Verrückten die Supermärkte leer. Für mich, die aus Venezuela geflohen ist, war das wie ein Déjà-Vu. Zumindest habe ich dort bereits gelernt, an die Gemeinschaft zu denken, nur ein Kilo Reis zu kaufen und keine fünf, damit es für den oder die nächste auch noch etwas hat. Es ist schwierig, an die Gemeinschaft zu denken. Aber es ist nötig.

Persönlich habe ich meine Routine. Ich stehe auf und frühstücke mit meinem Freund. Er geht danach arbeiten – wenn es Arbeit gibt. Zuvor hatte er eine Stelle in einer Bierbrauerei. Inzwischen hat sie seinen Vertrag aber auf Kurzarbeit gestellt, und die staatliche Rentenversicherung zahlt ihm im Moment 60 Prozent seines früheren Einkommens. Um über die Runden zu kommen, sucht er sich Gelegenheitsjobs bei Bekannten: streicht ihre Häuser, repariert Dinge oder hilft aus bei einem Lieferservice.

Ich setze mich dann jeweils ans Fenster um zu lesen. Gerade bin ich mit ‘Conde de Montecristo’ fertig geworden, jetzt beginne ich mit ‘Amor’ von Isabel Allende. Ich muss die Gelegenheit nutzen und Isabel Allende lesen, jetzt, wo ich in Chile bin. Weil die Digitalisierung in meinem Berufsfeld durch den Corona-Lockdown beschleunigt wird, bringe ich mir übers Internet mehr über Editionsprogramme bei, um fürs digitale Marketing fit zu sein. Vor Ort zu drehen ist ja im Moment nicht möglich. Danach mache ich Sport, am liebsten Yoga, weil mich das richtig entspannt. Ich spreche auch viel mit meinem Vater, der in Spanien lebt, mit meiner Mutter, die noch immer in Venezuela ist, und mit meiner Schwester in Ecuador. Manchmal treffen wir uns auf Zoom und machen zusammen Sport, so motivieren wir uns gegenseitig.

In der Quarantäne hat Rebeca angefangen, Brot zu backen.

In der Quarantäne hat Rebeca angefangen, Brot zu backen.

Ich habe gemerkt, dass die Zeit in der Quarantäne unglaublich schnell vergeht. Am Anfang dachte ich, dass ich das nicht überstehen würde, aber jetzt, wo ich meine Routine habe, fehlt mir manchmal sogar die Zeit, um alles zu machen, was ich mir für den Tag vorgenommen habe. Die Quarantäne dauert nun bald schon drei Monate hier, und ich habe mich dran gewöhnt.

Vorher hatte ich oft Stress und Angst. Schon in meiner Heimatstadt Mérida in Venezuela litt ich unter Klaustrophobie. Nachdem ich vor drei Jahren von dort weggegangen bin und nach Santiago de Chile kam, ist es schlimmer geworden. Dieser Wechsel von einer kleinen Bergstadt mit 300 000 Menschen in die 6-Millionen-Supermetropole hatte einen grossen Einfluss. In Mérida wohnte ich in den Bergen und hatte meine Ruhe. Hier ist alles viel stressiger. Es gibt Leute, denen das gut gefällt. Aber mir nicht, das ist nicht meine Umgebung. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mit vielen Hunden auf dem Land leben, ich würde gärtnern und Bier brauen.

Das ältere Paar gegenüber sieht Rebeca jeden Nachmittag an der Sonne sitzen.

Das ältere Paar gegenüber sieht Rebeca jeden Nachmittag an der Sonne sitzen.

Ich ging dann zu einem Therapeuten, und er sagte mir, dass ich eine Angstneurose habe. Wir fühlen ja alle manchmal Angst oder sind nervös, aber bei mir wurde die Angst pathologisch. In diesem Sinne hat mir die Quarantäne geholfen, weil ich mein Leben um zwei, drei Gänge runterschalten musste. Vorher verausgabte ich mich zu sehr. Ich verliess Venezuela, um ökonomische Stabilität zu finden. Ich wollte Geld, Geld und noch mehr Geld, um alles zu sparen, damit wir was auf der Seite haben, falls es zum Beispiel einen Notfall in der Familie gibt. Ich dachte an nichts anderes. Und ich hatte Glück: Als ich hier ankam, waren viel weniger Venezolanerinnen und Venezolaner hier als heute, und die Migrationsgesetze noch nicht so streng. Gleich nach zwei Wochen fand ich meinen ersten Job bei einer TV-Werbefirma. Als ich dort kündigte, begann ich gleich meinen zweiten Job, ebenfalls in der Werbefilmbranche. Aber als vergangenen Oktober die sozialen Unruhen begannen, sagten die mir: "Entschuldige, aber wir haben hier keine Arbeit mehr für dich".

Die Zeit der Proteste war hart, vor allem auch für uns aus Venezuela. Wir haben unser Land verlassen, nur um hier auf ähnliche Probleme zu treffen. Vor allem am Anfang waren die Demonstrationen richtig krass. Ich arbeitete in einem anderen Stadtteil von Santiago, und auf meinem Weg nach Hause fand ich mich in heftigen Krawallen wieder. Die Leute schrien rum, verbrannten Supermärkte und alles. Ich habe viel mit den Leuten diskutiert. Sie sagten: «Wir verbrennen Lidl und Walmart, weil die uns ausrauben», und ich fragte zurück: «Wie kann ein Supermarkt dich ausrauben? Geh doch einfach nicht dort einkaufen, dann wirst du auch nicht ausgeraubt», aber das wollen die Leute ja auch nicht, weil es so praktisch ist, im Supermarkt einzukaufen. Zudem fügt man dem Besitzer der Supermarktkette keinen grossen Schaden zu, wenn man den Laden verbrennt, der hat ja eine Versicherung und wohnt wahrscheinlich im Ausland. Aber die Leute, die dort arbeiten, werden Schaden nehmen. Ich versteh die Leute natürlich, die protestieren, das hier ist auch ein verschissenes System. Ich glaube jetzt einfach an gar nichts mehr, kein System funktioniert, weder Kommunismus noch Kapitalismus, zumindest nicht in der Extremform… Man muss aus beiden das Beste rausnehmen.

Als ich keine Arbeit mehr hatte, entschied ich, etwas zu tun, das mich innerlich erfüllt. Weil ich arbeitete bis zum Umfallen, ging es mir finanziell gut, aber ich war innerlich tot. Das Gefühl war so stark, dass mir sogar die Tarot-Karten sagten: «Lass die Vergangenheit los und stürz dich in die Zukunft, riskier etwas». Die Leute in Chile lassen sich andauernd die Tarot-Karten legen. Meine Vermieterin hat ihre eigenen zu Hause, die sie mir manchmal zum Spass legt. Ich glaube zwar nicht daran, aber als ich das hörte, dachte ich: Wohin soll ich mich stürzen? Wo bin ich überhaupt? Und wer? Ich bin echt verloren im Universum, aber zum Glück kann ich das in aller Ruhe feststellen, denn da ich wie blöd gearbeitet habe, habe ich jetzt Geld, um die Miete zu bezahlen.

Was ich mit all dem sagen will, ist, dass die Quarantäne einigen Menschen gutgetan hat. Zumindest mir hat sie gutgetan. Vielen Leuten geht es sehr schlecht, das ist klar. Einen venezolanischen Freund von mir haben sie hier in Santiago vor kurzem aus der Wohnung geworfen, weil er die Miete nicht zahlen konnte. Zum Glück kam er bei Verwandten unter. Diesbezüglich zeigen sich einige Leute hier wenig flexibel. Die denken, dass man Geld aus der Luft zaubern kann. Es gibt nun sogar Rückführflüge für Venezolanerinnen und Venezolaner, die keine Arbeit mehr haben, ihre Miete nicht bezahlen können und deshalb freiwillig nach Hause zurückkehren.

Vor kurzem habe ich mir überlegt, ob die Quarantäne die neue Normalität werden könnte. Genauso wie damals, als ich Venezuela verliess: Wir alle dachten am Anfang, dass das Regime bald stürzen wird, und wir zurückkehren, um unser Land neu aufzubauen. Aber jetzt sieht es so aus, als ob das nicht allzu bald passieren würde. Also beginnst du, dich in der neuen Normalität einzurichten und dir zu überlegen, wie du in diesen Umständen deinen Alltag bestreiten wirst. Du kommst an, weil der Ausnahmezustand die neue Normalität werden könnte, oder, weil es noch lange dauern könnte, bis die alte Normalität wieder zurück ist.» 

Firoz koh, Afghanistan

Firoz koh, Afghanistan

Chandigarh, Indien

Chandigarh, Indien