WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Chandigarh, Indien

Chandigarh, Indien

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Apoorva Sharma, 28, Architektin

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Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Unseren Garten, in dem auf einem Baum ein Vogel nistet und Eichhörnchen vorbeihuschen.

Was hast du heute zum Frühstück gegessen?
Dosa – eine Art indischer Pancake aus Linsen – mit Chutney, und natürlich Chai, Tee.

Welches ist zu deinem wichtigsten Gegenstand geworden?
Mein Smartphone, es ist meine Verbindung zur Aussenwelt. Inmitten der Corona-Krise habe ich aber den Bildschirm kaputt gemacht – nicht nur das Display, auch mein Herz war zerbrochen!

Was vermisst du am meisten?
Das spontane Spazierengehen, grundlos, ziellos. Ohne, dass mich jemand fragt, wohin ich gehen will.

«Bislang waren die sogenannten Wanderarbeiter in Indien unsichtbar – nun hat Corona ihnen ein Gesicht verliehen: Die Bilder von den imposanten Menschenmengen, die an Bahnhöfen strandeten, weil wegen des Lockdowns Ende März alle Züge gestrichen wurden, gingen um die Welt. Vielen blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen – zum Teil in mehrtägigen Fussmärschen.

Die Wanderarbeiter kommen oft aus dem wirtschaftlich schwächeren Osten unseres Landes, es zieht sie in die Grossstädte im Westen, um für ein paar Monate Arbeit zu suchen. Doch diese ist oft informell – eine Absicherung gibt es keine, somit auch während der Corona-Krise nicht. Diese Menschen, die sich am unteren Ende der wirtschaftlichen Hierarchie befinden, sind deshalb von ihrem sozialen Kapital abhängig. 

Wegen der grossen Unsicherheit und des schwachen Gesundheitswesens wollten die meisten zurück in ihre Heimatorte, zu ihren Familien. Das Beunruhigende: Jetzt kann man sehen, was für einen grossen Teil der Bevölkerung die Wanderarbeiter ausmachen. Wenigstens ist die Regierung nun endlich gezwungen zu reagieren – sie kann nicht mehr so tun, als ob es dieses Problem nicht gäbe. 

Der nationale Lockdown in Indien begann am 24. März - gerade wurde er erneut verlängert. Die Schulen sind geschlossen, es finden Online-Lektionen statt. Doch auch hier zeigt sich die grosse Ungleichheit im Land: Viele Schülerinnen und Schüler haben weder Smartphones noch Laptops. Deshalb versucht man mancherorts, den Schulstoff via SMS zu vermitteln, selbst über eine Verbreitung via Radio wird nachgedacht. Insbesondere für öffentliche Schulen wird es eine grosse Herausforderung sein, nach dem Lockdown zum normalen Unterricht zurückzukehren: Sie sind oft so überfüllt, dass man keinen Abstand zueinander wahren kann. 

Am Anfang war der Lockdown in Indien so strikt, dass sogar Lebensmittelgeschäfte schliessen mussten. Nur Gemüse und Milch durfte man sich nach Hause liefern lassen. Es herrschte eine totale Ausgangssperre. Das war sehr belastend. Inzwischen wurden gewisse Massnahmen gelockert, die meisten Geschäfte haben wieder geöffnet, nur Einkaufszentren und Bazars, also die grossen Märkte, sind nach wie vor zu. Doch die Öffnungszeiten der Läden sind stark reduziert: Von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends – und das in einem Land, das sonst eher einen 24 Stunden-Betrieb kennt. 

Die Strasse des Wohnquartiers in Chandigarh, an der Apoorva mit ihrer Familie lebt.

Die Strasse des Wohnquartiers in Chandigarh, an der Apoorva mit ihrer Familie lebt.

Die Polizei ist sehr strikt bei der Durchsetzung der Restriktionen. Sie kontrolliert sogar, wie viele Leute in einem Auto sitzen und kann fragen, wohin man fährt. Man darf sich nur mit einem guten Grund ausserhalb des Hauses bewegen. Immerhin ist es nun pro Büro einem Drittel der Mitarbeitenden wieder erlaubt, vor Ort zu arbeiten, die anderen zwei Drittel aber bleiben weiterhin im Home Office.

In einem so grossen Land wie Indien kann man eine Epidemie nicht national handhaben. Deshalb wurden Anfang Mai die Gebiete analog zum Ampelsystem in grüne, orange und rote Zonen aufgeteilt. In grünen Gebieten läuft das Leben einigermassen normal weiter, in orangen Gebieten wurden gewisse Massnahmen gelockert, in roten Gebieten ist der Lockdown strikter. Welche Farbe Chandigarh hat? Rot. Chandigarh liegt 250 Kilometer nördlich von Delhi. 1,1 Millionen Menschen leben hier.

Da nun die Bundesstaaten ihre eigenen Anpassungen der Massnahmen machen dürfen, haben einige Anfang Mai den Alkoholverkauf wieder erlaubt – das durch die hohe Alkoholsteuer eingenommene Geld macht einen grossen Teil der Budgets der Regionalregierungen aus. Gleichzeitig haben wir einige Bundesstaaten, die sogenannten «trockenen Staaten», in denen der Alkoholverkauf auch zu nicht-Corona-Zeiten strikt verboten ist.

Ich bleibe nach wie vor zu Hause. Zwar sind jetzt wieder mehrere Geschäfte geöffnet, doch kümmert sich bei uns weiterhin mein Vater um das Einkaufen. Meine Grosseltern leben im gleichen Haus wie wir, mein Grossvater ist bereits 95 Jahre alt. Deshalb passen wir besonders auf, dass wir uns nicht irgendwo anstecken. Meine Tante wohnt ebenfalls bei uns; dazu kommen noch unsere Haushaltshilfe und deren Familie, also sind wir zurzeit insgesamt elf Personen, darunter drei Kinder. Meine Eltern wollen sie und ihre Familie während der Corona-Krise unbedingt weiterhin unterstützen. 

“Es passt zur Corona-Krise, dass wir unser Haus um einen Stock ausbauen – als würden wir der Ausgangssperre zum Trotz versuchen, unseren Raum zu erweitern.”

Vor ein paar Monaten lebte ich noch in Mumbai. Da meine Eltern aber ihr 50-jähriges Haus in Chandigarh ausbauen wollten, bin ich wieder zu ihnen gezogen, um mitzuhelfen. Mein Vater ist Bauingenieur, ich bin Architektin, das ergibt ein gutes Team, und dieses gemeinsame Projekt bereitet mir grosse Freude – auch wenn ich mich immer wieder durchsetzen muss, wenn meine Eltern spontan neue Ideen haben, die wir aber nicht auch noch umsetzen können. 

Jetzt, da der Lockdown etwas gelockert wurde, können langsam auch wieder Bauarbeiten aufgenommen werden, das war am Anfang ebenfalls verboten. Es passt irgendwie zur Corona-Krise, dass wir unser Haus um einen Stock ausbauen – als würden wir der Ausgangssperre zum Trotz versuchen, unseren Raum zu erweitern. 

Mit diesem Projekt haben wir zwar schon vorher begonnen, dennoch hat Corona Einfluss darauf: Wir überlegen jetzt ganz genau, wie wir die Möglichkeiten zum Händewaschen gut integrieren können, und natürlich müssen alle beim Arbeiten eine Schutzmaske tragen. Ich verbringe gerne Zeit mit den Bauarbeitern, da bekomme ich immer wieder auch politische Diskussionen mit, etwa über die Corona-Massnahmen. Viele vertrauen der Regierung und dem Gesundheitswesen nicht – aus guten Gründen. Inzwischen sagt man, dass die Situation in Mumbai so schlimm ist wie in New York! 

Der wachsende Hausausbau - familiäres Teamwork

Der wachsende Hausausbau - familiäres Teamwork

Neben dem Hausausbau arbeite ich noch an anderen Projekten, auch wenn diese zurzeit auf Eis liegen. Eines dieser Projekte ist in einem sogenannten Anganwadi, fünf Stunden Busfahrt von hier entfernt. Dabei handelt es sich um eine Art halb staatlicher, halb informeller Krippen in oftmals inoffiziellen Siedlungen, die von Frauen aus dem Quartier betreut werden. Dort wird auch medizinische Grundversorgung angeboten, Frauen über Familienplanung aufgeklärt und Schwangere begleitet.

Während der Corona-Krise kommt diesen Krippen, die es überall in Indien, aber vorwiegend auf dem Land und in ärmeren Dörfern gibt, eine wichtige Rolle zu. Hier kann die Regierung bei der Verbreitung von Informationen über das Virus und über Hygienemassnahmen ansetzen sowie Kontakte rückverfolgen. Gleichzeitig aber handelt es sich um eine alte, traditionelle Institution, die von der Bevölkerung grösstenteils ignoriert wird. Es ist also schwierig, diese zu reformieren, da die Frauen nicht angestellt sind, sondern das freiwillig nach eigenem Gutdünken machen, auch wenn sie für ihre Arbeit ein Honorar erhalten. Sie wollen oft nicht, dass sich die Regierung einmischt. 

Ich interessiere mich vor allem für den Bau und die Weiterentwicklung solcher Krippen. Ich möchte herausfinden, wie wir die Community beim Planen und Bauen eines Anganwadi am besten miteinbeziehen können. Es geht darum zu sehen, welche Methoden funktionieren, und welche nicht. Diese Resultate möchten wir dann der Regierung präsentieren, damit ein Projekt entwickelt werden kann, das skalierbar ist.

“Als Architektin interessiert mich das Konzept des Raums – als Ort, wo verschiedene Personen aufeinandertreffen und sich ihren eigenen Raum kreieren.”

Zudem bin ich in einer NGO engagiert, die in einer solchen inoffiziellen Siedlung tätig ist. Dort forsche ich zum Thema Raum. Ich muss etwas ausholen: Ziel der NGO Chhotisiasha ist es, Frauen in einer Community zusammenzubringen, damit sie sich austauschen und ihr eigenes Netzwerk bilden können. In solchen inoffiziellen Siedlungen kennt man oft nicht einmal die Nachbarn. Der Vorteil einer solchen Gemeinschaft ist die Nähe zum Zuhause, denn diese Frauen müssen oft noch auf Kinder aufpassen und kochen. 

Gleichzeitig handelt es sich aber auch um ein Sozialunternehmen: Die NGO organisiert etwa Nähkurse, damit die Frauen ein Handwerk lernen, ihre Produkte verkaufen und so einen Nebenverdienst haben können. Sie werden auch in Sachen Marketing unterstützt. Jetzt sind die Bestellungen natürlich eingefroren, aber die NGO hat kurzerhand umgesattelt und näht nun mit den Frauen Schutzmasken – das Tragen von Gesichtsmasken ist hier auf den Strassen seit Anfang April obligatorisch. 

Als Architektin interessiert mich vor allem das Konzept des Raums – als Ort, wo verschiedene Personen aufeinandertreffen und sich ihren eigenen Raum kreieren. In diesen inoffiziellen Siedlungen gibt es keine Bauvorschriften, kein urbanes Design. Doch genau hier entsteht Innovation, weil die Menschen flexibel sein müssen und nicht viele Ressourcen haben. Deshalb werden Dinge geschaffen, die man in Stadtzentren nicht findet. Das fasziniert mich. Doch dieses Forschungsprojekt muss warten, da wir ja die Stadt nicht verlassen dürfen. Ich freue mich darauf, wenn das endlich wieder möglich ist. Corona wird wohl auch unser Verständnis von Raum grundsätzlich verändern – darauf bin ich gespannt.»

Santiago de Chile, Chile

Santiago de Chile, Chile

Olón, Ecuador

Olón, Ecuador