WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Emporia, Kansas, USA

Emporia, Kansas, USA

Rachael LeClear, 39, humanitäre Helferin  

Vier Jahre lang arbeitete Rachael als humanitäre Helferin auf der griechischen Insel Lesbos. Zusammen mit Geflüchteten zog sie in einem Eco-Projekt Kräuter und Tomaten in die Höhe, schaffte einen Raum der Bewegung und des Durchatmens für die Menschen, die zum Teil seit Jahren auf der Insel Lesbos in menschenunwürdigen Zuständen in Europas Größtem Flüchtlingslager festsitzen. Als die Grenzen zu schließen drohten, reiste sie im März zu ihrer Familie nach Kansas zurück. Schon lange hatte sie mit dem Gedanken an diesen Schritt gespielt, denn sie wollte sich mit ihrem Grossvater über sein Leben unterhalten. Derzeit liegt die Zahl der Neuinfektionen in den USA bei rund 40.000 pro Tag, insgesamt werden fast 2,6 Millionen Infektionen und 126.000 Todesfälle erfasst. Die EU hält die Grenzen für amerikanische Reisende weiterhin geschlossen.

Arbeitsfrühstück im Mai, mit Blumen aus dem Garten.

Arbeitsfrühstück im Mai, mit Blumen aus dem Garten.

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst? 

Aus dem dritten Stockwerk meiner Eltern sehe ich auf die Rosen im Garten.

Und was hörst du? 

Den Güterzug. Auch wenn er nicht fährt, höre ich ihn. Es ist das Geräusch meiner Kindheit. Der Zug geht durch das ganze Land. An unserem Haus braust er am Tag etwa 30 bis 40 mal vorbei. Der Zug ist Teil unseres Lebens. Die Gesprächspause, wenn der Zug kommt, gehört sozusagen schon zum Gespräch selbst dazu.

Was hast du heute gefrühstückt? 

Einen Kale-Smoothie. Den Kale habe ich selbst angebaut hinter der Garage. Gleich nach meiner Rückkehr habe ich dort Paprika, Okraschoten, Zucchini und Kohl, Brokkoli, Gurken und Spargeln angepflanzt. Ich kenne diesen Garten seit meiner frühesten Kindheit. Schon 1955 baute meine Großmutter hier Salat an.

Ganz oben im dritten Stock schaut Rachael jeden Morgen aus dem Fenster.

Ganz oben im dritten Stock schaut Rachael jeden Morgen aus dem Fenster.


Welcher Gegenstand ist dir in den letzten Wochen am wichtigsten geworden? 

Mein Telefon gibt mir die virtuelle Türklinke in die Hand, Freunde auf der ganzen Welt zu besuchen. Es zeigt mir auch, wie vielschichtig wir in diesem Moment der Geschichte leben.

Das Fahrrad. Ein Fahrrad ist immer Freiheit. Am schönsten ist es, in der Nacht durch die breite Allee zu fahren. In der Stille habe ich das Gefühl, mir gehört die ganze Stadt. Nur die Pfotentapser meines Hundes (aus Griechenland) vermisse ich neben mir auf dem Asphalt. Ich musste sie bei der überstürzten Abreise bei einer Freundin in Europa zurücklassen. Ihr würde jetzt die ganze Straße gehören. Ich würde ihr zurufen, ade, ade, Agapi (auf griech.: Lauf, lauf, meine Liebe)!

Die Coronavirus-Krise hat sich in den USA zuletzt wieder verschärft: Mehr als die Hälfte der US-Bundesstaaten verzeichnet derzeit einen raschen Anstieg von Ansteckungen. Wie ist die Situation in Kansas? 

In meiner Stadt leben in etwa 25.000 Menschen. Viele haben einen Garten. Also nicht zu vergleichen mit der Situation von Menschen in dicht gedrängten Wohnungsblöcken. Ich glaube, dieser physische Abstand war es auch, der den Ausbruch hier zumindest bis jetzt noch unter Kontrolle gehalten hat. Dabei sieht es im Rest des Landes ganz anders aus.

In Emporia hört man den Burlington Northern Santa Fe Railroad bevor man ihn sieht.

In Emporia hört man den Burlington Northern Santa Fe Railroad bevor man ihn sieht.

Du bist vor drei Monaten von Griechenland nach Amerika zurück gekehrt, wie ist deine Lebenssituation jetzt?  

Seit ein paar Monaten lebe ich wieder mit meinen Eltern. Hier haben wir unsere eigenen Hausregeln. Da die Konsequenzen einer Corona-Ansteckung für sie und meine Grosseltern katastrophale Konsequenzen haben könnten, sind wir von Anfang an nicht viel hinaus gegangen. Von den Lockerungen der letzten Wochen bekomme ich, ausser bei den Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt, gar nicht so viel mit.

Was ist die größte Herausforderung in dieser Zeit? 

Im Moment, neue Gesprächsthemen beim Abendessen zu finden (lacht). Zuvor war ich die meiste Zeit des Tages und auch der Nacht auf den Beinen. Immer gab es etwas zu tun, und man hatte täglich Duzende verschiedener Leute um sich herum. Jetzt hat sich dieser Kreis sehr begrenzt. Ich bin wieder auf mich zurück geworfen, das gibt Zeit zur Reflexion, doch manchmal hat man auch das Gefühl, mit seinen Gedanken im Kreis zu drehen. Ich brauche letztlich immer wieder kreative Impulse, um mich für längere Zeit zurück ziehen zu können.

Wann hast du das letzte Mal so richtig gelacht? 

Jetzt gerade mit dir am Telefon. Meistens, wenn ich meine Freunde am Telefon höre. Es gibt Momente in denen wir richtig lachen können oder zusammen schweigen. Ich glaube, das sagt auch gerade viel aus über den Moment der Geschichte, in dem wir leben. 

Hast du etwas Neues gelernt in dieser Zeit?

Ich glaube, ich bin besser darin geworden, Dinge zu akzeptieren. Nur die Kämpfe zu führen, die ich auch kämpfen kann.  Wir können an jeder noch so schwierigen Situation wachsen. Das bleibt in letzter Instanz unsere eigene Entscheidung. 

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Wie sieht ein  Tag bei dir im Moment aus? 

Ich habe keinen direkten Arbeitsalltag mehr. Alle meine Projekte sind gestoppt. Die Kommunikation scheint im Moment immer in einem Zwischenraum gefangen. Doch es gibt auch eine gewisse Routine, die vorher nicht da war, die ich sehr geniesse. Ich habe Zeit zum Meditieren und esse gesund mit vielen Farben auf dem Teller.


Was hat dich überrascht in der letzten Zeit?

Dass es in dem ganzen Stillstand durch die Pandemie durch die Ermordung George Floyds auf einmal einen so wichtigen und seit langem nötigen Aufschrei für Veränderung gab. Es gab so viele Momente, so viele Tote, die diesen Moment hätten werden können in der Vergangenheit. Diesmal mal war es der Tod von George Floyd, der diesen systematischen Rassismus noch einmal an die Oberfläche brachte.


Wie hast du die Proteste in Kansas erlebt?

Wir liefen alle auf die Strasse. Mit Masken natürlich.

Im Gegensatz zu der Polizeigewalt in Kansas City, verhielt sich die Polizei hier sehr ruhig und lief in der Menge mit.

Wir haben hier eine Menge Arbeit zu tun, wenn es um die systematische Diskriminierung schwarzer Stimmen und Leben geht. Es gibt so viele Schichten, und die Wurzeln reichen sehr tief. Jahrhunderte dieses Rassismus kommen nun an die Oberfläche. Menschen, die sonst weggesehen haben, beginnen zu lesen, zu sehen, zu hören, zu fühlen. Es gibt so viel amerikanische Geschichte, die wir nicht in der Schule gelernt bekommen. 

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 Welche Veränderung siehst du seither in deiner Umgebung?

Langsam fangen auch unpolitische Stimmen an zu fragen: Wie konnte ich das nie wissen? Warum gibt es hierzulande ein Strafverfolgungssystem, in dem nicht alle Menschenleben gleich viel zählen? Diese Ungleichheit sehen wir auch im Wohnung-, Bildungs- und Gesundheitswesen. Wir bleiben mehr denn je mit der Frage zurück: Warum habe ich nichts über diese Kapitel der Geschichte gelernt und was ist davon heute noch übrig? Auf 250 Jahre Sklaverei folgten Jahre der legalen Diskriminierung, der politischen Entmündigung und wirtschaftlichen Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung. Dabei fängt die Arbeit der Anti-Diskriminierung bei mir selbst an.

Was gibt dir in dieser Zeit Hoffnung?

Ich hoffe, dass wir als globale Gesellschaft verstehen, dass diese strukturelle Ungerechtigkeit nicht länger unter den Teppich gekehrt werden kann. Es ist längst fällig, diese lauten, vornehmlich weiß-männlichen-christlichen Stimmen zu hinterfragen. Sie konnten sich nur so lange an der Macht halten, weil sie die schwarzen, asiatischen, LGBTQ+ Stimmen (neben vielen anderen) unterdrückt haben.

Im Haus der Grosseltern.

Im Haus der Grosseltern.

Siehst du das auch in Europa passieren?

Wenn wir den einen das Recht auf Leben verwehren, nehmen wir uns irgendwann selbst die Luft zum Atmen. Das sehe ich an den europäischen Außengrenzen, in Amerika und anderswo. In den letzten Wochen gibt es immer mehr gewalttätige und illegale Push-Backs von Geflüchteten im Mittelmeer. Eine Frau trieb über 15 Stunden lang in griechischem Gewässer auf einem Schlauchboot. Sie lag in den Wehen und wurde nicht gerettet, obwohl die europäische Grenzschutzagentur vor Ort war. Ich verfolgte die Nachrichten hier auf meinem Telefon und dachte voller Entsetzen, das ist jetzt so ein Alan Kurdi- ein George-Floyd-Moment. Doch dieser war es nicht. Erst gestern wurde wieder ein Boot abgedrängt. Dabei sind die Linien des Unrechts so klar nachzuzeichnen, von hier in Emporia, bis nach Lesbos und zurück.

Was machst du heute noch?

Jetzt gehe ich wohl gleich in den Garten, und beim Abendessen mit meinen Eltern fallen mir bestimmt ein paar mehr Themen ein.

Rachael mit ihrer Grossmutter.

Rachael mit ihrer Grossmutter.




















Himalaya-Region

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Sana'a, Jemen

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