Roudnice nad Labem, Tschechien
Helena Eichingerova, 45, Sport- und Biologielehrerin
Roudnice nad Labem, oder auf Deutsch, Raudnitz an der Elbe, ist eine kleine Stadt mit rund 12000 Einwohnern, etwa vierzig Kilometer nördlich von Prag. Sie wird dominiert von einem Schloss aus dem 17. Jahrhundert, das auf den Ruinen einer Burg erbaut worden ist, und dem Fluss, der die Stadt in zwei Teile schneidet. Helena lebt mit ihrem Partner, der 8-jährigen Tochter und dem 10-jährigen Sohn in einem Haus an einer alten, jüdischen Strasse, in Gehdistanz von ihren Eltern. Doch an jenem Abend, als Helena und ich uns über Zoom begegnen, ist Helena gar nicht in Raudnitz, sondern irgendwo auf dem Land, ganz weit weg - was ich aber erst realisiere, als schon einige Minuten unseres Gesprächs vergangen sind……
Helena, entschuldige, ich bin ein bisschen verwirrt. Ich dachte, du seist in Raudnitz. Aber da bist du gar nicht. Wo befindest du dich denn gerade?
Helena (lacht): In Arnostov, einem winzigen Dorf im Böhmerwald, unmittelbar an der deutschen Grenze, etwa drei Autostunden von Raudnitz entfernt. Wir haben eine Ferienwohnung hier und sind schon während des ersten Lockdowns hergekommen. Früher war Arnostov ein stattliches Dorf mit etwa 2000 Menschen und 800 Häusern, aber die wurden im Krieg fast alle zerstört. Heute gibt es nur noch zehn Menschen und acht Häuser. Und in einem davon leben wir. Hier draussen haben wir Sonne und frische Luft, kaum Leute und Restriktionen.
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Wiesen und Wälder und eine kleine Strasse, die 300 Meter von unserem Haus im Nichts endet. Heute Morgen war alles weiss. Es war, als hätte der Frost einen Schleier über die Landschaft gelegt.
Was hast du heute gefrühstückt?
Brot mit Butter, Kaffee und Milch. Ich esse jeden Tag was anderes zum Frühstück. Aber heute war es Brot und Butter. Wir haben eine sehr gute Bäckerei hier. Deshalb probieren wir immer wieder ein mal ein neues Brot aus.
Welches ist dein wichtigster Gegenstand geworden?
Hmm, sicher mein Laptop und mein Telefon. Das Internet ist nun ja sozusagen unsere Lebensader. Und ja - meine Laufschuhe! Seit Beginn des Lockdowns gehe ich jeden Tage eine Stunde laufen. 8 bis 15 Kilometer. Das war meine Bedingung für den Lockdown. Denn ich unterrichte, kümmere mich um die Kinder, koche, putze - da will ich mal nicht reden und nur für mich sein. Diese Stunde ist wie Ferien für mich. Und ich bin in den vergangenen Monaten ziemlich fit geworden.
Was vermisst du am meisten?
Meine Freunde, kulturelle Anlässe, all unsere sportliche Aktivitäten. Wir bewegen uns seit Monaten im selben Kreis, treffen dieselben Leute, das macht mich wahnsinnig.
Wie ist die Covid-Situation gerade bei euch? Hier, in der Schweiz, sind wir seit kurzem wieder in einem Lockdown light.
Helena: Ach, echt? Wir auch. Also, in einem knallharten Lockdown. Hier ist die Situation dramatisch. Ich habe schon bald keine Nerven mehr, die Fallzahlen zu verfolgen. Die Neuinfektionen liegen nun um etwa 5000 pro Tag, die Höhe des Reproduktionswerts ist 1,2. 10391 Menschen sind seit Beginn der Pandemie an Covid-19 gestorben. Das ist sehr viel für eine Bevölkerung von knapp elf Millionen. Dabei gab es von März bis Oktober nur insgesamt 500 Covid-Tote, dann aber erhöhte sich die Zahl innerhalb eines einzigen Monats, von Oktober bis November, auf 6370. Eine Katastrophe!
Wie konnte das geschehen?
Das liegt wohl daran, dass wir im Sommer kaum Restriktionen hatten. Die Tschechen reisten kreuz und quer durch Europa, niemand trug Schutzmasken, die Restaurants waren offen, man kam überall zusammen, machte Partys. Es war, als wäre im Frühling nie etwas gewesen, als hätten wir nie eine Pandemie gehabt. Jeder war glücklich. Der Sommer war warm und wunderschön. Danach begannen die Fallzahlen wieder zu steigen. Es wurde September, doch die Regierung unternahm nichts. Und dann war es zu spät.
Hier haben die Spitäler Alarm geschlagen. Das Personal ist am Anschlag. Wie ist es in Tschechien?
Die Spitäler haben sich früh auf eine grosse Anzahl Patenten vorbereitet, überfüllt wurden sie aber nicht. Heute sind sie zu 75 Prozent ausgelastet - mit steigender Tendenz. Auch hierfür wird die Regierung verantwortlich gemacht.
Wie wirkt sich der Lockdown bei euch aus? Was ist erlaubt und was nicht?
Die Schulen sind natürlich zu, ausser die Kindergärten, die Leute, die können, arbeiten von zuhause aus, alle Geschäfte, Bars und Restaurants sind geschlossen, ausser Lebensmittelläden, Apotheken und Drogerien. Deren Kapazität ist aber auf eine Person pro 14 Quadratmeter reduziert. Dafür boomt das Online-Shopping. Wir lassen uns die Sachen nach Hause liefern oder holen sie in den Läden an Pick up-Stellen ab. Läden, die solche Pick up-Stellen anbieten, dürfen offen haben - mit der Folge, dass nun plötzlich fast alle Geschäfte Pick up-Stellen eingerichtet haben… (lacht). Auch Restaurants behelfen sich mit Take Away-Fenstern. Und nun bilden sich vor diesen Pick up-Stellen und Take Away-Fenstern überall in den Städten lange Warteschlangen. Das hat das Leben in Tschechien verlangsamt.
Ich nehme an, auch bei euch spielt sich nun der Hauptakt des Alltags vor allem in den eigenen vier Wänden ab.
Ja klar. Die meisten Menschen bleiben zuhause bei ihren Familien. Viele haben sogar angefangen, selber zu kochen. Das ist eine gewaltige Veränderung. Und eine ebenso grosse Herausforderung. Aber bislang beklagt sich niemand darüber, alle scheinen die Situation irgendwie zu akzepieren. Wir selbst habens ganz gut. Wir haben keine Probleme, nur extrem viel zu tun. Ich will die Lage jedoch nicht beschönigen. Die Zeit ist fliessend geworden, wir wissen nicht mehr, welcher Tag gerade ist. Sehr viele Menschen haben Existenzängste. Familien, in denen beide Elternteile berufstätig sind, aber nicht im Homeoffice arbeiten können oder wegen des Lockdowns gar keinen Lohn mehr erhalten, weil Läden oder Restaurants geschlossen sind.
Zahlt der Staat keinen Lohnersatz?
Doch, das wäre eigentlich vorgesehen. Die Regierung hat versprochen, Shops und Restaurants zu unterstützen. Bis jetzt hat aber niemand Geld gesehen. Die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer warten noch immer auf das Geld, das im Frühling zur Überbrückung des ersten Lockdowns versprochen wurde. Das wird wohl frühstens in einem Jahr ausbezahlt, doch dann wird es wohl für viele zu spät sein. Der Regierung vertraut inzwischen kaum jemand mehr. Das ist unser grösstes Problem.
Wie geht ihr damit um?
Na ja, zum Glück haben wir Tschechen unseren Sinn für Humor trotz allem noch nicht verloren. Wir machen Witze über Coronoa und über die Fehltritte Regierung.
Erzähl mir einen Witz, bitte!
Hmmm, das ist schwierig. Denn viele Wortspiele lassen sich nicht übersetzen, zudem geht es um Details zu den Regierungsmitgliedern, die schwer zu erklären sind.
Bitte!
Als gut: Unser Premierminister Andrej Babis hat eine sehr schöne blonde Ehefrau. Weisst du, so eine richtig üppige Blondine. Babis ist Multimilliardär und besitzt ein Firmenimperium, zu dem über 250 Unternehmen in 18 Ländern gehören. Es gehen Gerüchte um, dass er für sein Business von der EU Geld erschlichen hat. Zudem sitzt seine Frau in der Geschäftsleitung einer seiner Firmen. Das ist die Ausgangslage. Kannst du mir folgen?
Ich versuchs.
Im Oktober forderte Andrej Babis unseren Gesundheitsminister Roman Prymula zum Rücktritt auf. Prymula ist Epidemiologe und Armeearzt und knallhart. Er hatte strenge Massnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus eingeführt. Während des Lockdowns liess er sich auf ein privates Treffen in einem Luxusrestaurant ein. Wer weiss, vielleicht hatte ihm jemand eine Falle gestellt. Denn als er das Restaurant verliess, wurde er von der Zeitung „Blesk“ fotografiert. Ausgerechnet in diesem Moment trug Prymula keinen Mundschutz. Zudem wurde er dabei erwischt, dass er ein Restaurant besuchte, was eigentlich verboten war. Denn das Restaurant hätte geschlossen sein müssen. Ein Gesundheitsminister, der die eigenen Corona-Regeln missachtet? Untragbar. Nun kam die Frage auf, wer denn der nächste Gesundheitsminister werden würde. Denn Roman Prymula war nach dem Rücktritt des vorhergehenden Gesundheitsministers zu dessen Nachfolger ernannt worden und zu jenem Zeitpunkt erst seit einem Monat im Amt gewesen. Und nun kommt die Pointe…
…okay….
Sagt der Premierminister zu seiner Frau: „Das wär doch was für dich! Du sitzt in der Geschäftsleitung eines meiner Unternehmen, also kannst du ebensogut auch die neue Gesundheitsministerin werden.“
Ist kompliziert, ich weiss.
Ja, aber wunderbar bitterböse.
Wechseln wir das Thema: Wie sieht ein ganz normaler Tag bei dir aus? So weit wir von Normalität reden können.
Also, ich unterrichte an der Highschool in Litomerice, Leitmeritz, einer Stadt, die etwa 18 Kilometer von Roudnice entfernt ist, an drei aufeinanderfolgenden Tagen, Biologie und Sport. Darüberhinaus coache ich die Leichtathletinnen und Basketballer. Derzeit geschieht dies natürlich alles online. Zwischendurch koche ich, putze und wasche, gebe meinen Kindern IT-Support – was nicht ganz einfach ist, da jedes Kind seinen eigenen Computer hat - und gehe mit ihnen raus an die frische Luft. Sie müssen sich bewegen.
Du unterrichestet Sport online? Wie geht das denn?
Ich erstelle für jede Disziplin akribische Pläne für sieben bis zehn Tage. Die Schülerinnen und Schüler müssen in dieser Zeit zum Beispiel eine bestimmte Distanz laufen und eine Reihe von Übungen machen. Viele haben sehr aktive Eltern. Die machen den Sport mit ihren Kindern gleich mit, und die Kinder schicken mir Fotos, um ihre Leistungen zu dokumentieren.
Gibt es etwas, das ihr dank der Pandemie gelernt habt?
Hmm, ich denke, die Leute haben angefangen, Sachen eigenhändig zu produzieren; sie backen Brot, nähen sich Kleider und auch Schutzmasken, fahren vermehrt mit dem Velo zur Arbeit und bauen sogar ihre eigenen Häuser. Denn viele haben den Lockdown in engen Wohnungen verbracht, ohne jede Möglichkeit, in den Garten zu gehen. Das war hart. Zudem realisieren die Leute, dass sie von der staatlichen Elektritätsversorgung unabhängiger werden und sich nach alternativen Energiequellen umsehen müssen. Die staatliche Elektritätsversorgung ist einfach zu unzuverlässig. Vor kurzem hatten wir hier draussen während eines ganzen Tages keinen Strom. Nichts funktionierte. Wir hatten nicht einmal Wasser. Die Kinder freute es, da sie sich nicht ständig die Hände waschen mussten. Aber für mich war es eine grosse Herausforderung. Immerhin: Solche Pannen kommen dem Business meines Mannes zugute: Er betreibt einen Onlineshop mit verschiedenen Batterien und Solarpanels. Seine Umsätze wachsen gerade kräftig. Das ist sehr gut für uns.
Was macht dir Angst?
Ich mache mir Sorgen um meine Eltern. Mein Vater hat schreckliche Angst vor dem Virus. Er hatte zwar schon immer Angst vor Viren, aber dieses Virus ist besondern schlimm. Jetzt ist er krank, kein Corona, Gott sei Dank. Aber wir werden über die Festtage in Raudnitz bleiben müssem, um in seiner Nähe zu sein. So viele alte Menschen sind derzeit allein und leiden furchtbar unter ihrer Einsamkeit. Das beelendet mich sehr. Zudem bedrücken mich die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes. Sie werden an niemandem spurlos vorbeigehen.
Welches Thema macht in Tschechien gerade Schlagzeilen – ausser Corona?
Corona ist das alles dominierende Thema. Aber Covid beginnt mich zu langweilen, echt! Um mir Abwechslung zu verschaffen, flüchte ich mich auf Facebook und schaue mir die Unterwasserfilme an, die ein Freund gedreht hat. Er ist ein professioneller Taucher und hat es in den vergangenen Wochen irgendwie nach Galapagos geschafft. Seine Filme sind total entspannend, Balsam für meine Seele. Ein Highlight.
Hast du ein Rezept für die kommende Zeit?
Nicht wirklich. Wir werden weitermachen wie bisher. Ich werde versuchen, mit dem Rest der Welt in Kontakt zu bleiben, das ist wichtig für mich. Ich habe Freundinnen in Russland und im Iran, wenn ich mich mit ihnen austausche, rückt es mir meine eigene Realität wieder zurecht. Und ja, ich werde so oft wie möglich ins Freie gehen. Wir dürfen zwar nach neun Uhr abends das Haus nicht mehr verlassen, ausser wir gehen zur Arbeit, zum Arzt oder mit dem Hund spazieren.
Mit dem Hund spazieren?
Genau. Die Leute haben angefangen, sich bei Nachbarn oder Bekannten Hunde auszuleihen, um einen Grund zu haben, nach neun Uhr aus dem Haus zu kommen. Auf Instagram kursiert schon das Bild eines Doggen, der völlig ausgepumpt auf dem Sofa liegt. Ich schicke es dir gleich.
Äh, und das stimmt tatsächlich? Das mit den Hunden, meine ich.
Ja, natürlich (lacht).
Echt?
Nein, nein, das war ein Witz.
Schade, das hätte ich jetzt nur allzu gerne geglaubt!