WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Lausanne, Schweiz

Lausanne, Schweiz

Fridolin Mattmüller, 18, Student

Fridolin Mattmüller ist ein guter Freund von mir. Nach der Matura diesen Sommer wagte er den Schritt, sein Elternhaus zu verlassen und zog nach Lausanne, in die französischsprachige Schweiz. Dort begann er, Bauingenieurswissenschaften zu studieren. Zu jenem Zeitpunkt sind die Coronafälle in der Schweiz explodiert. Aktuell befindet sich das Land in einem Semi-Lockdown. Alle Restaurants, Kinos, Theater und Freizeitzentren sind zu. Nach anfänglichem Hickhack haben verschiedenen Kantone selbst ihre Skipisten geschlossen. Und eben wurden auch in der Schweiz Varianten des mutierten Virus entdeckt. Europa hält gerade den Atem an. Da die Lage in der Westschweiz bis vor ein paar Wochen noch schlimmer war als in der Deutschschweiz, legten einzelne Kantone schon Ende Oktober, beziehungsweise Anfang November, das öffentliche Leben still. Wie so viele junge Menschen litt auch Fridolin sehr unter der Isolation, die uns das Leben unter der Pandemie aufzwingt, und den verpassten Chancen. Hier redet er offen darüber, wie schlecht es ihm ging, und wie er es schaffte, sich aufzufangen.

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Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
In diesem Moment nichts. Es ist derzeit ziemlich dunkel, schon um vier Uhr nachmittags. Wäre es heller, würde ich meine Nachbarn sehen, die immer die gleiche Routine
haben. Ich sehe jeden Tag den gleichen Typ mit seinem Aktenkoffer. Sonst sehe ich noch einen Wohnblock mit mehreren Stockwerken. Unten hat es einen Garten, und weiter
oben einen Balkon, dessen Besitzer nicht wollen, dass man hineinschauen kann und irgendwie so eine komische Wand aufgestellt haben. Am Anfang habe ich gedacht, es würde
eine Frau dort wohnen, da ich sie immer rauchen gesehen habe, aber in den letzten paar Wochen schauen immer andere Leute hinter dieser Mauer hervor. Das ist echt komisch.

Was hast du heute morgen gefrühstückt?
Ein Snickers glaube ich. Naja, zum Frühstück... Mehr nicht. Ich war viel zu spät dran. Und der Snickers kostete eigentlich nichts, weil es ein zwölfer Pack war, und zwei
davon gratis waren. Die ganze Packung war sogar noch um 50 Prozent reduziert.

Was ist gerade dein wichtigster Gegenstand?
Der PC. Tastatur, Maus... Irgendwie ist die einzige Verbindung zur Aussenwelt, abgesehen von den Leuten, die auch hier im Wohnheim wohnen, dieses Gerät.

Was vermisst du am meisten?
Das Sammeln von Erfahrungen. Ich habe mich unglaublich darauf gefreut, neue Erfahrungen zu sammeln. Das trifft mich am stärksten in der Coronazeit.

“Ich  liebe  es, mich herauszufordern und ins kalte Wasser zu springen.”

“Ich liebe es, mich herauszufordern und ins kalte Wasser zu springen.”

Das Sammeln von Erfahrungen - war das auch deine Motivation, den grossen Schritt zu wagen und nach Lausanne zu ziehen?
Ja, genau. Ich war noch nie jemand, der sich eine bestimmte Zukunft ausgemalt hat und unbedingt ein bestimmtes Leben führen wollte. Mein einziges Lebensziel ist es, Erfahrungen zu sammeln. So viele und unterschiedliche wie möglich. In Zürich zu studieren, hätte für mich keine besondere Veränderung bedeutet. Ich wäre dann immer noch zu Hause gewesen, hätte meine Zeit mit den gleichen Leuten verbracht und wäre zu wenig aus mir herauskommen. Ich dachte, in Lausanne könnte ich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Ich würde selbstständiger, müsste eine neue Sprache lernen und eine neue Universität, beziehungsweise eine neue Umgebung, erkunden. Das war für mich eine Bedingung, um überhaupt zu studieren. Wäre ich in Zürich geblieben, hätte ich wohl ein Zwischenjahr gemacht, aber definitv kein ETH-Studium angefangen.

Was hast du dir von Lausanne erhofft?
Das Studentenleben habe ich mir ähnlich wie in Zürich vorgestellt. Ich war mir bewusst, dass ich viel Zeit lernend in meinen eigenen vier Wänden verbringen würde. Ich habe aber erwartet, dass die Vorlesungen anders sein würden. Weniger einsam. Da nun alles online ist, ist man noch mehr alleine.

Das heisst, der einzige Unterschied, zwischen deiner Vorstellung und der Realität ist der Fakt, dass du keine Kontakte knüpfen und Leute sehen kannst?
Ja, es ist eigentlich genau das. Ich möchte jetzt auch nicht alles auf Corona schieben, da ist natürlich auch die Sprachbarriere, die ich erst einmal überwinden muss. Aber als ich noch zur Uni gehen konnte, war das weniger ein Problem. Wenn ich nicht weiter wusste, habe ich einfach irgendwelche Witze gemacht oder im schlimmsten Fall mit Händen und Füssen artikuliert. Vor dem zweiten Lockdown konnten wir drei Tage pro Woche auf den Campus, und wenn ich dort war, war der Stoff viel interessanter, und es hat mir viel mehr Spass gemacht. Ich habe zwar weniger verstanden als jetzt, denn wenn die Vorlesungen online sind, kann ich pausieren und die Vokabeln nachschauen, die ich nicht kenne. Aber ich konnte in den Pausen mit Kollegen über das Erlebte und Gelernte reden. Auch wenn es nur darum ging, sich über den Professor aufzuregen.
Es war wenigstens ein natürlicher Austausch.

Auf dem Campus konnte ich in den Pausen mit Kollegen über das Erlebte und Gelernte reden. Auch wenn es nur darum ging, sich über den Professor aufzuregen. Es war wenigstens ein natürlicher Austausch.

Wie hat sich für dich die Rolle der bestehenden Freundschaften verändert?
Mein Plan war es ja, meine Freunde und Freundinnen eine Zeitlang nicht zu sehen. Ich wollte mich abschirmen, um mich so schnell wie möglich hier in Lausanne einzuleben. Ich hatte das Gefühl, dass ich sonst mit dem halben Kopf noch in Winterthur wäre. Denn ich liebe es, mich herauszufordern und ins kalte Wasser zu springen. Wäre ich jede Woche nach Winterthur zurückgefahren, um meine Freunde zu sehen oder ständig am Telefon mit euch zu hängen, wäre ich höchstens in lauwarmes Wasser gesprungen. Und das war mir zu wenig. Ich bin auch keiner, der Freundschaften erzwingt. Dann entstehen Freundschaften, die bleiben. Aber als ich doch wieder mal zurückgekommen bin, war es sehr schön, mit bekannten Gesichtern über meine Probleme zu reden. Ich schätze meine Freunde unglaublich.

“Es ist  schon eine gewisse Enttäuschung da, wenn nicht sogar ein wenig Scham. Es ist ein Fakt, dass ich das Studium unter diesen Umständen nicht geschafft habe.”

“Es ist schon eine gewisse Enttäuschung da, wenn nicht sogar ein wenig Scham. Es ist ein Fakt, dass ich das Studium unter diesen Umständen nicht geschafft habe.”

Du hast mir ja erzählt, dass du dein Studium unterbrechen und eine Pause einlegen möchtest. Einer der Gründe dafür ist der fehlende Kontakt zu Mitstudierenden. Ich nehme mal an, du hast dich sehr auf den neuen Lebensabschnitt in Lausanne gefreut. Wie enttäuscht bist du jetzt?
Das ist schwierig, zu beantworten, da ich eigentlich schon mit der Situation abgeschlossen habe. Ich bin mir sicher, dass der Weg, den ich nun gewählt habe, beziehungsweise wählen werde, der richtige für mich ist. Allerdings ist schon eine gewisse Enttäuschung da, wenn nicht sogar ein wenig Scham. Es ist ein Fakt, dass ich das Studium unter diesen Umständen nicht geschafft habe. Aber ich denke, ich springe zu gern ins kalte Wasser und das Studium war mir zu langweilig. Und irgendwie macht mir das auch Angst, da ich mir nicht sicher bin, ob ich das Studium nur deswegen unterbreche.

Na ja, du könntest ja einfach durchbeissen und weitermachen.
Ich denke, das hat wieder mit meinem Drang zu tun, Erfahrungen zu sammeln. Während Corona ist es so ziemlich das Aufregendste, den sicheren Hafen zu verlassen und einen anderen Weg einzuschlagen. Natürlich kann es sein, dass Corona nur ein Vorwand ist für diesen Schritt. Doch ich fragte mich, ob ich lieber jetzt durch diese unangenehme Phase gehen soll, und es mir dann längerfristig hoffentlich mental besser geht, oder ob ich das Studium unter diesen Umständen weiterziehe, obwohl es mir nicht gut geht. Ich habe mich für die erste Variante entschieden. Und das liegt nicht daran, dass ich mich nicht zusammenreissen und viel Stoff lernen kann, sondern daran, dass mir der menschliche Aspekt vollkommen fehlt. Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich Zeit einsparen würde, würde ich das Jahr jetzt noch durchziehen. Aber die Frage ist, ob ich es mental geschafft hätte, so weiterzumachen. Und überhaupt: Was bedeutet es, Zeit zu sparen?

Der leere Campus der EPFL Lausanne Bild: EPFL

Der leere Campus der EPFL Lausanne
Bild: EPFL

Weisst du schon, wie dein weiterer Weg aussieht?
Ich werde jetzt noch ein paar Wochen studieren, daneben aber Projekte verfolgen, die ich schon seit längerem weiterführen wollte. Ich bin noch an Lausanne gebunden, da ich für zwei weitere Monate vertraglich im Studentenwohnheim bleiben muss. Damit habe ich mich abgefunden und versuche, diese Zeit so gut wie möglich zu nutzen. Klar ist für mich, dass ich danach arbeiten möchte. Ich war deswegen auch schon im BIZ, dem Berufsinformationszentrum. Ideal wäre, wenn ich so viele berufliche Erfahrungen
in so vielen verschiedenen Bereichen wie möglich sammeln könnte. Der Arbeitsmarkt sieht zwar gerade nicht sehr rosig aus, doch habe ich schon ein paar Ideen für Praktika, die mich interessieren. Ich möchte auch in eine WG ziehen, darauf freue ich mich schon sehr. Ich weiss noch nicht, ob ich in der Westschweiz bleiben möchte, aber nach Winterthur zurück will ich nicht. Ich möchte nicht stehenbleiben im Leben.

Was sind das für Projekte, die du gerade verfolgst?
Ich habe mir vorgenommen, in den nächsten Wochen jeden Tag ein ganz kurzes YouTube-Video hochzuladen. Ich habe auch ein längeres Konzept, eine Montage, die ich gerne umsetzten würde. Aber das mache ich nur, um mir die nötigen Fähigkeiten anzueignen, die ich dann für weitere Filmprojekte nutzen kann. Das alles steht unter dem Motto: “In den nächsten paar Wochen tue ich das, worauf ich Lust habe”. Auch das Programmieren habe ich wieder aufgenommen, und ich will wieder mehr lesen, aber das hat noch nicht so richtig funktioniert. Ich würde auch gerne ein Skript schreiben für einer Folge einer Serie, die es schon gibt. Das wäre spannend, die Handlung von der anderen Seite aufzurollen und dann vielleicht mal ein Konzept für eine eigene Serie zu erarbeiten. Ein ganz anderes Ziel ist der Eintritt in eine Jungpartei. Ich möchte das unbedingt ausprobieren, auch wenn ich derzeit nicht einmal wüsste, welcher ich beitreten soll, da ich recht parteiübergreifend wähle. Und sobald es wegen der Corona-Situation wieder möglich ist, möchte ich die Aushebung für den Zivildienst machen.

Ich habe mich vor kurzem gefragt, was ich meinen Kindern erzählen werde, wenn sie wissen wollen, wie ich die Pandemie erlebt hatte. Ich werde versuchen, ihnen das Gefühl der Einsamkeit zu vermitteln.

Stichwort «Corona-Müdigkeit». Spürst du die auch?
Ja. Wie so viele andere bin ich langsam genervt, da sich die Situation nicht verbessert. Längst hat sie auch das anfänglich Aufregende verloren, da die Pandemie doch schon seit fast einem Jahr unser Leben bestimmt. Ich habe mich vor kurzem gefragt, was ich meinen Kindern erzählen werde, wenn sie wissen wollen, wie ich die Pandemie erlebt hatte. Ich werde versuchen, ihnen das Gefühl der Einsamkeit zu vermitteln. Meine Eltern arbeiten beide in der Pflegebranche und sehen Tag für Tag, was diese Einsamkeit mit den Leuten
macht, und das ist so tragisch. Ich gehöre auch dazu und bin fast daran kaputt gegangen. Je nachdem, wie lange die ganze Lage noch so bleibt, befürchte ich, dass auch unserer Generation Vieles verloren geht. Wir wohnen in einem sehr privilegierten Land, das es uns ermöglicht, uns in unseren späten Jugendjahren selber zu entdecken. Doch haben wir jetzt, oder in naher Zukunft, nicht die Chance, Sachen ausprobieren, auf die Fresse zu fliegen, wenn es nicht funktioniert, und daraus zu lernen. Ich befürchte, das wird eine Lebenserfahrung sein, die uns fehlen wird.

Auf jeden Fall. Das kann ich total nachvollziehen, denn das ist auch ein stetiger Gedanke in meinem Kopf. Aber kurz noch zu einem anderen Thema: Im Herbst hiess es, die Westschweizer und Westschweizerinnen seien bezüglich der Corona-Massnahmen lockerer als die Deutschschweizer. Dies, weil es bei euch eine Zeitlang sehr viel mehr Fälle gab als hier in der Ostschweiz. Wie ist es nun; Sind die Westschweizer tatsächlich so viel geselliger?
Ich denke schon. Ein Beispiel: Als meine Mutter nach Lausanne kam, um mir ein paar Sachen zu bringen, wusste sie nicht genau, wo sich mein Studentenwohnheim befindet. Als sie nach der Adresse fragte, haben ihr viele Menschen angeboten, zu ihr ins Auto zu steigen und sie zu navigieren. In Zürich wäre das nie vorgekommen. In Lausanne ist Corona schon omnipräsent. Es gab hier auch immer striktere Regeln. Sogar im Sommer, als wir unter zehn Fälle hatten. Aber eben, die Mentalität ist anders. Hier kommen ganze Haushalte zusammen, um draussen zu essen. Das sei anscheinend ganz normal und etwas, das die Leute nicht aufgeben wollen. Ich bin einmal Pizza essen gegangen und habe die Besitzerin des Restaurants gefragt, ob sie nicht Angst hätte vor einer zweiten Schliessung. Sie meinte, sie käme über die Runden, es sei zwar mühsam, aber die Pizzeria hätte jetzt mehr Lieferungen. Dann habe ich sie gefragt, ob sie denn keine Angst um ihr Geschäft hätte, und sie antwortete, doch natürlich, aber die Gesundheit sei wichtiger, und es bringe ihr nichts, sich zu viele Sorgen zu machen. Dieses Gespräch war sehr prägend.

Ich habe wieder angefangen, Tagebuch zu schreiben, um meinen Kindern eines Tages erklären zu können, wie sich diese Periode in meinem Leben angefühlt hat. Machst du auch so etwas Ähnliches? Oder wie verarbeitest du die Geschehnisse?
Ich habe mir vorgenommen, alle meine Gedanken aufzuschreiben, sie zu sortieren und in einem Doku-Film festzuhalten. Ich bin nicht jemand, der Tagebücher liest. Viel lieber schaue ich mir einen Film an. Und vielleicht werde ich den dann auch meinen Kindern zeigen können.

Was gibt dir Halt in diesen Zeiten?
Meine Kollegen und meine Familie sind essentiell für mich. Aber in erster Linie gebe ich mir selber Halt. So war ich es, der gemerkt hat, dass es mir nicht gut geht und mich aufgefangen hat. Das hat mich unglaublich wachsen lassen.

“Ich möchte nicht stehenbleiben im Leben.”

“Ich möchte nicht stehenbleiben im Leben.”








Gioia Bono

Karlsruhe, Deutschland

Karlsruhe, Deutschland

Roudnice nad Labem, Tschechien

Roudnice nad Labem, Tschechien