Beirut, Libanon
Abbas Abbas, 27, Arabisch-Lehrer
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster schaust?
Ich sehe Beirut. Ich sehe fast alle Stadtviertel der Ostseite. Ich sehe Tauben, die in Kreisen fliegen, ich sehe das Meer. Es regnet. Aber da sind ein paar Sonnenflecken. Die Aussicht ist fantastisch. Ich kann auch die Berge sehen. Ich kann mir sogar vorstellen, wie es ist, jetzt dort zu sein.
Was hattest du heute zum Frühstück?
Ich hatte eine Man’ouche (levantinische Pizza), Za’atar und Käse, also Cocktail. Und Nescafé. Und eine Banane.
Was vermisst du am meisten?
Mein Dorf vermisse ich am meisten, um ehrlich zu sein. Dort zu sein, in Ruhe und Frieden, ohne mir Sorgen zu machen. Es ist der einzige Ort, an dem ich das Gefühl von einem klaren Geist haben kann. Ich vermisse es, draussen Feuer zu machen, beim Haus meiner Grosseltern, wo du dem Regen oder dem Schnee zuschauen kannst, während du am Feuer sitzt, und entweder Essen machst oder Wasser kochst für den Tee.
Was ist dein wichtigster Gegenstand?
Mein Fahrrad. Ich habe es vor ein paar Monaten gekauft. Es ist ein Kindheitstraum für mich, ein Fahrrad zu haben. Vor allem in der Stadt, in Beirut, weil der Verkehr so verrückt ist. Es ist also sehr effizient, ein Fahrrad zu fahren. Ich geniesse das. Ich gehe jeden Tag, wenn es das Wetter erlaubt, an die Küste und schaue dem Sonnenuntergang zu. Das ist hier im Libanon eine ziemlich beeindruckende Aussicht.
Das Jahr 2020 war – nicht nur, aber vor allem dank der Corona-Pandemie – für die ganze Welt ein unglaubliches Jahr. Eines, das zum Synonym geworden ist für eine Aneinanderreihung von Katastrophen und Situationen, die wir uns zuvor nicht vostellen konnten.
Doch wahrscheinlich gab es kaum ein Land, in dem sich das Leben der Menschen in diesem Jahr so rasend schnell verändert hat, wie im Libanon. Nachdem im Herbst 2019 die grössten Massenproteste in der modernen Geschichte des Landes stattfanden, folgte die tiefste Wirtschaftskrise, die der Libanon je erlebte. Das libanesische Pfund verlor innert weniger Monate über 80 Prozent seines Werts, die Menschen haben wegen Kapitalkontrollen der Banken keinen Zugriff mehr auf ihre Ersparnisse. Die Preise für Nahrungsmittel haben sich teilweise verdreifacht. Die Mittelschicht verarmt, und die Armen werden an den Rand der Existenz gedrängt.
Hinzu kam die Corona-Pandemie. Noch im März verkündete die Regierung einen strengen Lockdown und konnte somit eine erste Welle verhindern. Gleichzeitig war der Lockdown für die Menschen, die auf ihr tägliches Einkommen angewiesen sind, eine Katastrophe.
Am 4. August erschütterte eine Explosion am Hafen die Hauptstadt Beirut. Sie war grösser als alles, was ihre BewohnerInnen selbst während des Bürgerkriegs (1975-1990) erlebt hatten. Über 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Die Stadtviertel in der Nähe des Hafens wurden schwer beschädigt, über Kilometer barsten Fensterscheiben, Türen wurde aus den Angeln gerissen, Möbel durch die Wohnungen geschleudert. Manche Häuser kollabierten vollständig.
Abbas Abbas lebte ganz in der Nähe des Hafens – er verlor sein Zuhause. Im Moment schläft er bei Freunden. Die wichtigste Stütze in den letzten Monaten war für ein Projekt, das er mit Freunden aufgebaut hat: Sie wollen Beirut grün machen.
“Die Idee hatte einer unserer Freunde aus Jordanien mitgebracht. Als er dort lebte, war er zwischendurch einen Monat in England. Als er zurückkam, sah er, wie jemand die Brachfläche neben seinem Haus in einen Garten verwandelt hatte. Das war vor etwa einem Jahr. Als er in den Libanon kam, wollte er dasselbe machen.
Am Anfang waren wir zu viert. Wir begannen im März dieses Jahres, in den ersten Tagen der Corona-bedingten Ausgangssperre. Zuerst sahen wir uns verschiedene Orte an. Doch "Leziiza" hat uns allen am meisten bedeutet. Wir nannten ihn "Leziiza", weil hier früher eine Getränkefabrik stand, die das alkoholfreie Bier "Leziiza" herstellte, bevor sie vor zwei Jahren abgerissen wurde. Als Erinnerung daran haben wir den Garten "Leziiza"-Park genannt.
Wir wussten am Anfang nicht, wohin das Ganze führt. Zuerst haben wir den Müll weggeräumt. Dann haben wir drei Bäume gepflanzt: Einen Zitronenbaum und zwei Orangenbäume. Zwei davon hatte uns ein Mann gespendet, dem die Idee gefallen hat. Er wollte uns unterstützen. Diesen ersten drei Bäumen haben wir Namen gegeben: Valerie, Berry und Larry. Das war in den ersten Tagen. Dann haben wir ein Treffen gemacht, über den Namen des Projekts nachgedacht und die Idee klarer formuliert: Wir wollten diesen Ort säubern und einen Garten daraus machen. Denn in Beirut gibt es zwar genug leerstehende Luxushäuser – aber kaum öffentliche Gärten, an denen man sich einfach hinsetzen und ein Buch lesen könnte.
Der Lockdown hatte uns geholfen, weil alle Leute zu Hause sassen, und viele freiwillig beim Projekt mitmachten. Ich selbst arbeitete zu jener Zeit in einem Restaurant, hatte aber weniger Arbeit wegen des Lockdowns. Es war keine einfache Zeit. Ich hatte kaum Geld, um die Miete zu bezahlen, und spielte mit dem Gedanken, ob ich zurück nach Syrien sollte. Die Arbeit im Garten aber hat mir psychisch sehr geholfen. Sie brachte mich zurück zu meinen Wurzeln: Bäume und Gemüse zu pflanzen, war das erste, was ich in meinem Leben gelernt hatte. Ich stamme aus einem Dorf in den Bergen von Syrien. Unsere Familie hatte riesige Plantagen, auf denen Oliven, Trauben, Feigen und Granatapfel wuchsen. Wir hatten nie Gemüse gekauft, sondern es selbst angebaut. Auch das Brot haben wir immer selbst gebacken. Als ich fünf Jahre alt war, pflanzte ich meinen ersten Baum: Die Idee stammte von meinem Grossvater, der dasselbe für meinen Vater gemacht hatte. Der Baum sollte mit mir zusammen gross werden.
In der Zeit der ersten Welle habe ich also im Restaurant gearbeitet, im Garten, und Arabisch unterrichtet. Im Juli wurde es im Restaurant richtig schwierig. Es gab kein Geld mehr. Jede Woche galt etwas anderes, mal konnten wir öffnen, mal mussten wir wieder schliessen. Ich musste mich entscheiden: Ich arbeitete, aber ich konnte ja nicht einmal mehr die Miete davon bezahlen. Gleichzeitig wusste ich, dass es fast unmöglich sein würde, etwas Neues zu finden. Der Libanon kollabiert gerade wirtschaftlich. Doch als es ein Problem gab beim Restaurant, beschloss ich, etwas Eigenes zu machen.
Ich unterrichte seit drei Jahren Arabisch, allerdings online. Nachdem ich meinen Job im Restaurant verlor, fragte ich meine Freunde, ob sie jemanden kannten, der Arabisch lernen wolle. Gleichzeitig gab es viele Freiwillige, die uns halfen, die dann anfingen, mit mir Arabisch zu lernen. Gleichzeitig hatte ich mehr Zeit, im Garten zu arbeiten. Das Projekt hat mir sehr geholfen. Die Leute, die daran arbeiteten, hatten alle einen anderen Hintergrund, kamen von überall her. Ich lernte viel von ihnen, zu sehen, wie jeder eine andere Geschichte hat, und jeder ein anderes Problem, das er auf seine Art löst.
Als ich 2019 nach Beirut kam, kannte ich nur eine Person, die nach kurzer Zeit nach Syrien zurückkehrte. Jetzt habe ich eine Familie hier, wir haben einen Garten. Es bedeutet mir viel zu sehen, wie man mit einem bisschen Arbeit und guter Energie das Gesicht eines Ortes ändern kann.
Dann kam die Explosion. Es war sehr schwer. Wir vom Projekt waren fast alle betroffen, und auch die Nachbarn, die um den Garten herum lebten. Ich selbst habe alles verloren, mein Haus, meine Arbeit, nach der Explosion habe ich wochenlang nicht unterrichtet. Es war schwierig, wieder anzufangen. Doch der Garten hat mir geholfen, weiterzumachen. Ich war jeden Tag hier, ausserdem halfen wir den Nachbarn und den Menschen in den betroffenen Vierteln, ihre Häuser wieder aufzubauen. Doch das Wichtigste für mich war, dass der Garten bleibt.
Trotzdem gab es einen Moment nach der Explosion, an dem ich das Projekt aufgeben wollte. Nach der Katastrophe war ich zwei Monate lang der einzige, der jeden Tag runter ist und gearbeitet hat. Die Nachbarn haben gesehen, dass nur noch ich im Garten arbeite. Dabei war das doch nicht unsere Botschaft. Wir wollten zeigen, was man schaffen kann, wenn man zusammenarbeitet – und jetzt war ich allein hier. Also habe ich mit Charlie geredet, ihm gesagt, dass es nicht sein kann, dass nur einer sich um den Garten kümmert.
Dann haben wir zusammen beschlossen, dass wir das Gras pflanzen. Die Leute haben viel Stress, viele haben eine Depression. Deswegen hatten wir das Gefühl, dass wir etwas Gutes machen. Wir haben sechs Monate gearbeitet, jede Woche drei oder vier Tage, jeden Tag 16 Stunden, alles freiwillig. Wir wollten etwas Schönes machen. Zeigen, was jemand Schönes machen kann, wenn er Zeit hat.
Für die Nachbarn war das am Anfang alles merkwürdig. Warum kommen hier diese jungen Leute, und räumen den Müll weg und pflanzen Bäume? Doch dann kamen die Kinder, haben mit uns gespielt und uns geholfen. Später haben uns die Nachbarn zum Kaffee eingeladen, zum Essen, wir sassen zusammen im Garten, haben gegrillt, gegessen und getrunken. Wenn ich im Garten sitze, habe ich heute das Gefühl, als ob ich in meinem Dort in Syrien sitze – ich kenne jeden, der vorbeikommt.
Einmal kam es zu einem Gespräch über die Syrer. Als einer der Nachbarn, er ist selbst Libanese, erfuhr, dass ich Syrer bin, sagte er: “Du gleichst den Syrern aber gar nicht.” Ich sagte ihm, er hatte eine falsche Vorstellung. Ich fragte ihn, was meine Nationalität ändern würde, schliesslich kenne er mich jetzt schon seit Monaten. Ich glaube, er war schockiert. Nach der Explosion haben wir das Haus von einem der Nachbarn repariert – einem Syrer. Da kam der Mann, der sich zuvor abschätzig geäussert hatte, und hat uns geholfen. Dabei hatten sie sich früher jeweils angeschrien.
Es ist wichtig, dass wir weitermachen. Wir haben eine Verantwortung. Vor der Explosion dachte ich, ich wollte den Libanon verlassen. Jetzt aber will ich hier weitermachen. Denn die Stadt Beirut verdient es, dass jemand etwas für sie macht.”