Mytilini, Griechenland
Maryam Janikhushk, 41, Bildungsexpertin
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Nichts. Nur den Himmel. Der Blick aus dem Fenster geht immer im Kreis – wie das Leben auf der Insel.
Was vermisst du am Meisten in diesen Tagen?
Meine Mutter. Jetzt habe ich sie seit 18 Jahren nicht mehr gesehen.
Was hast du gefrühstückt?
Heute gab es Apfel und Blaubeermarmelade. Dazu backen wir Nan-Brot. Wie schon zu meiner Kindheit. Natürlich schmeckt die Marmelade am Besten mit Safran. Aus der Türkei konnte ich ein paar Fäden mitbringen. Meine Mutter hatte sie mir aus ihrem kleinen Laden geschickt. Solange der Safran reicht, lasse ich auch meine Erinnerungen nicht los.
Sie nannten sie «Mama Maryam», «Die Anwältin» oder «die mächtigste Frau von Moria». Sie war die Frau mit dem ständig klingelnden Telefon und dem dunkelroten Notizbuch unter dem Arm. Für jeden erreichbar, hörte sie den Menschen im Auffanglager von Moria bis spät in der Nacht zu. Sie geht mit ihrem Telefon in eine ruhige Ecke ihrer kleinen Wohnung in der Verwaltungsstadt Mytilini, in die sie, fünf Kilometer vom Flüchtlingslager entfernt vor einem halben Jahr vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR, umgesiedelt wurde. «Die Kinder dehnen sich gerade nach dem Turnen.» sagt sie, «mein Mann macht jeden Abend mit ihnen Gymnastik.»
Zusammen mit ihren beiden Töchtern, ihrem Mann und einer weiteren Afghanischen Familie lebt die 41-Jährige in der kleinen Wohnung, die von dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR für besonders schutzbedürftige Familien gestellt wird. Im Hintergrund klackert das Geschirr im Spülbecken. «Mittlerweile schalte ich mein Telefon nachts stumm,» sagt sie, «untertags telefoniere ich insgesamt bestimmt acht Stunden.» Schon einen Tag nach ihrer Ankunft als Flüchtende auf der Insel engagierte sich die gelernte Bildungsmanagerin aus Afghanistan als «Community Leader». Sie vermittelt zwischen der Afghanischen Gemeinde (die mit fast 70 Prozent den Großteil des Camps ausmacht) und der Militärverwaltung des Camps.
Keine einfache Aufgabe in einem von Stacheldrahtzaun und Scheinwerferlicht umzingelten Militärgebiet, das nur für 2,800 Menschen ausgelegt ist und in dem schon vor einem Jahr mehr als die sechsfache Anzahl von Menschen unterkommen musste. Die eigene Privatsphäre nur durch einen Vorhang abgetrennt, warten heute 91,000 Menschen, bis ihr Asylantrag in der Warteschleife der griechischen Bürokratie wieder auftaucht. Ein Warten ohne Ziel. Die Europäischen Staaten haben im Zuge der Pandemie die humanitäre Aufnahme Geflüchteter größtenteils eingestellt.
«Für uns gibt es kein vor und zurück mehr», sagt sie. «Werden wir als „Flüchtlinge“ anerkannt, landen wir auf der Straße, weil wir unsere Unterbringung selbst bezahlen müssen und in Griechenland keine Jobs finden. Bleiben wir Asylbewerber, werden unsere Anträge nicht mehr bearbeitet und wir kämpfen auch in Moria ums Überleben.»
Nach Moria kommt Janikhushk in diesen Tagen der Ausgangssperre selbst kaum mehr. Seit Mitte März ist das Camp weitgehend abgeriegelt. Die Menschen sind großteils auf sich alleine gestellt. Sie hat das Gefühl, dass das Camp auch nach der Auflösung der Ausgangssperre immer weiter isoliert werden wird. In der zweiten Maiwoche wurde die Ausgangssperre für Griechen gelockert, die für Geflüchtete blieb bestehen.
«Heute haben schon wieder ein Duzend Leute vor dem LIDL-Supermarkt 150 Euro Strafe bekommen, weil sie gegen die Ausgangssperre verstossen«, sagt Maryam, «viele Leute wissen gar nicht, was es für neue Regulierungen gibt oder müssen einfach Windeln oder Seife einkaufen gehen, weil es in Moria keine gibt.»
Doch auch ihre eigenen Bewegungen auf der Insel drehen immer kleinere Kreise. Sie kann keine Frauen mehr zu den Behörden begleiten, die kein Englisch sprechen, oder ins Krankenhaus, oder Milchpuder und Arztbesuche organisieren. «Ständig klingelt das Telefon, aber wenn niemand anderes mehr da ist, der da ist und hilft, kann ich auch nichts mehr tun.»
«Es ist nicht immer einfach, all diese Welten zu jonglieren», sagt sie, «mal bin ich wütend, mal bin ich traurig und dann wieder voller Stolz für die Stärke der Menschen im Camp». Obwohl sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr als “Community Leader” im Camp arbeitet, klingelt ihr Telefon von früh bis spät. Wann macht die Asylbehörde wieder auf? Muss ich mein Kind im Zelt zur Welt bringen? Wo bekomme ich eine Bein-Prothese? Warum werden ein paar Kinder aus dem Camp geholt und andere bleiben zurück?
Ein Gutes hat die Ausgangssperre für die Familie: «Die Kinder freuen sich richtig, dass ich so viel Zuhause bin». Sie hat einen straffen Stundenplan für die Kinder erstellt. Am Nachmittag übt sie mit ihrer ältesten Tochter Mathe und Englisch. Sie will einmal Ärztin werden und verschlingt Bücher «wie eine Löwin». Abends spricht die Familie mit Freunden in Afghanistan, mit neuen Schulkameradinnen und alten Familienmitgliedern. Jeder Anruf wird genau geplant. Schließlich gibt es kein WLAN in der kleinen Wohnung.
«Es gibt so viel unnötiges Leid, das man verhindern könnte», sagt sie, «ich weiß, Europa ist in keiner einfachen Position. Doch wohin soll uns das führen?» Schweigen. Im Hintergrund hüpfen die zwei Mädchen auf den Bodenpolstern. «Die Kinder merken genau, wenn ich trotzdem lächle, auch wenn es nicht leicht ist.» Wieder klopft es in der Leitung.