WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Tripolis, Libyen

Tripolis, Libyen

IMG-20200501-WA0001.jpg

Marwan F., 31, Übersetzer und Sanitäter

Was hast du heute gefrühstückt?

Ich habe noch nicht gefrühstückt. Es ist Ramadan, und es dauert noch 5 Stunden und 40 Minuten, bis ich etwas essen werde

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster schaust?

Das Meer

Was vermisst du am meisten?

Zu Reisen

Marwan F. liebt das Reisen. Früher ging er alle zwei, drei Monate nach Tunesien, für ein paar Tage, bevor er wieder in seine Heimat in die libysche Hauptstadt Tripolis zurückkehrte. Das tue er, um “das Wetter zu wechseln”, sagt Marwan: der arabische Ausdruck für das, was bei uns Tapetenwechsel heisst. Er bezog jeweils eine Wohnung in Tunis, ging mit Freunden aus, oder er mietete direkt am Flughafen ein Auto und machte einen Roadtrip.

Doch Marwan reist nicht mehr. Klar, im Moment ginge das auch gar nicht. Wegen der Pandemie sind die einzigen beiden Flugverbindungen der libyschen Hauptstadt, nach Tunis und Istanbul, eingestellt. Zwei Wochen lang verhängte die Regierung in der Hauptstadt einen kompletten Lockdown. Jetzt dürfen die Menschen zumindest tagsüber wieder raus. “Aber viel machen kann man ohnehin nicht”, sagt Marwan. Cafés, Shisha-Bars, der Markt, alles ist geschlossen. “Zum Glück sind die Zahlen tief geblieben.”

64 Fälle und drei Tote verzeichnet Libyen bisher offiziell. Am Anfang, sagt Marwan, hätten die Menschen Angst gehabt vor dem Virus. Und die meisten Bewohner Tripolis hätten sich an die neuen Regeln gehalten. Nur einige wenige versuchten, die Vorschriften zu umgehen – ein Mann etwa habe nach der verordneten Schliessung einfach bei sich zu Hause ein Café eröffnet. Er wurde dann sehr schnell von den Behörden gebüsst. Die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Pandemie, glaubt Marwan, werden hoffentlich bald vorübergehen.

Doch Marwan hat schon lange vor der Corona-Pandemie aufgehört zu reisen. “Es fühlt sich nicht richtig an, jetzt wegzufahren”, sagt er. “Mein Kopf wäre trotzdem hier. Ich würde nur im Hotelzimmer sitzen, und auf Facebook schauen, was bei uns passiert.”

Wenn Marwan vom Krieg spricht, davon, wie er aufgehört hat, an die Zukunft zu denken, meint er die letzte Offensive von General Khalifa Haftar auf die Hauptstadt. Zwar dauert der Bürgerkrieg in Libyen schon neun Jahre an. Doch dieses Mal sei anders, sagt Marwan. Vor einem Jahr setzte Haftar dazu an, die Hauptstadt Tripolis zu erobern. Seither sind Raketen- und Bombenangriffe in Tripolis zum Alltag geworden, der Bürgerkrieg ist längst ein Stellvertreterkrieg und das Leben der Menschen in der Hauptstadt hat sich dramatisch verändert.

“Du bist wie gelähmt”, sagt Marwan. “Ich habe viele meiner Projekte aufgegeben. Vorher betrieb ich einen Autowaschsalon, habe gefilmt, ich hatte Pläne, mein Englisch aufzubessern und vielleicht eine zweite Sprache zu lernen.” Früher hat er Gitarre gespielt, doch das erscheint ihm im Moment nicht mehr angemessen. “Ich weiss nicht, wohin das alles führen wird.”

Marwan arbeitet als freiwilliger Sanitäter mit dem roten Halbmond oder dem Gesundheitsministerium. Regelmäßig fährt er an Orte, die kurz zuvor angegriffen wurden. Er birgt Menschen aus den Trümmern, er hilft jenen, die aus ihren Häusern fliehen mussten, und jetzt zum Beispiel in Schulen untergebracht sind.

Das Grauen, das er dabei erlebt, sei schwer zu ertragen. Doch er habe Wege gefunden, damit umzugehen. Auch wenn er nicht mehr ins Ausland reist, “das Wetter” wechselt er immer noch, so oft er kann. Etwa, indem er mit Freunden ein paar Tage zum Campen ans Meer fährt. Jetzt, im Fastenmonat Ramadan, geht er häufig ganz früh am Morgen, direkt nach dem ersten Gebet und während die meisten Bewohner Tripolis noch schlafen, an den Strand, und schaut für ein, zwei Stunden aufs Meer hinaus.

IMG-20200417-WA0012.jpg

Auch der Ausbruch der Corona-Pandemie hat in Libyen zunächst nicht dazu geführt, dass die Kämpfe aufhören. Im Gegenteil: die Angriffe auf die Hauptstadt gingen in den ersten Wochen unvermindert weiter und hätten zeitweise sogar noch an Brutalität zugelegt. Sogar Krankenhäuser und Gesundheitszentren wurden angegriffen – auch solche, die Corona-Patienten behandelten.

Das alles zehre an der Psyche der Libyerinnen und Libyer: “Der Krieg, die Inflation, nun die Pandemie – die Menschen sind erschöpft.” Und selbst, wenn der Krieg irgendwann vorbei sein sollte: die Wunden, die er hinterlässt, bräuchten sehr viel länger, bis sie geheilt seien. “Am Anfang der Revolution 2011 haben die Leute in Tripolis und Benghazi solidarisiert. Jetzt aber fragen sich die Menschen in Tripolis, warum greifen jene aus Benghasi uns an?” Dabei stammt Marwan ursprünglich selbst aus dem Osten des Landes. Sein Vater lebt noch immer dort, im von General Haftar kontrollierten Gebiet. Aus Furcht um ihn will Marwan seinen Nachnamen hier lieber nicht nennen.

Viele seiner Bekannten, sagt Marwan, wollten Libyen verlassen. “Sie haben angefangen, ihr eigenes Land zu hassen.” Doch Marwan denkt nicht daran, woanders hinzugehen. Das Problem, sagt er, sei doch nicht Libyen. Das Problem seien die Regierungen und die anderen Länder, die hier ihren Krieg führten.

Gaza, Palästina

Gaza, Palästina

Mytilini, Griechenland

Mytilini, Griechenland