Isfahan, Iran
Bahareh, 35, Italienischlehrerin und Reiseleiterin
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Unseren Innenhof mit seinem Garten und dem Leben, das dort gedeiht. Jetzt blühen gerade Feigen- und Orangenbäume, und in den Beeten wachsen Gemüse und Kräuter, Petersilie, Pfefferminz, Basilikum – alles ist grün, die Farbe des Glücks.
Was hast du heute gefrühstückt?
Ein gekochtes Ei, Tomaten, iranisches Fladenbrot, das im Ofen auf Kieselsteinen gebacken wird, dazu Sesam- und Olivenöl. Gesund zu essen, ist mir während der Pandemie noch wichtiger geworden. Deshalb hat mir mein Arzt einen Ernährungsplan gegeben, den ich strikt befolge. Ich variiere sogar mein Frühstück: Gestern, zum Beispiel, ass ich Fladenbrot mit Erdnussbutter und Tomaten, morgen stehen Käse, Tomaten, Joghurt und Sesamöl auf dem Plan. Dazu trinke ich Schwarztee oder Kaffee.
Was ist zu deinem wichtigsten Gegenstand geworden?
Meine Jogging- und Wanderschuhe. Sie sind meine zweiten Herzen.
Was vermisst du am meisten?
Als Reiseleiterin arbeiten zu können.
Bahareh, es ist jetzt achtzehn Uhr Schweizer Zeit, in Isfahan ist es zweieinhalb Stunden später. Ich sitze in meiner Küche, wo bist du gerade?
Bahareh: (Lacht) In meinem Zimmer. Ich wohne zusammen mit meinen Eltern und meiner Schwester im zweiten Stock unseres Hauses in einem ruhigen Quartier Isfahans. In der Wohnung unter uns lebt mein Bruder. Wir haben alle eine sehr innige Beziehung zueinander, deshalb funktioniert das sehr gut.
Ganz kurz: Zeichne uns ein Bild von der Strasse, an der ihr lebt.
Sie ist sehr sauber, wir haben nur wenig Verkehr hier. Frühmorgens kann ich die Vögel singen hören.
Wir vernehmen kaum etwas aus dem Iran ausser Nachrichten zum Atomabkommen. Was geschieht jenseits dieser Schlagzeilen? Wie geht es den Menschen im Iran?
Die Situation im Iran war bis vor kurzem sehr schlecht. Wir durchleben gerade die vierte Corona-Welle, Stand heute sind 74524 Menschen am Virus gestorben, die Zahl der Neuinfektionen liegt bei rund 18400. Gestiegen sind die Neuinfektion bereits gegen Ende März, als wir unser Neujahrsfest feierten, das Nouruz. Wir hatten zwei Wochen Ferien, die Menschen verbrachten Zeit mit ihren Familien, dabei haben sich wohl viele angesteckt. Der Iran hat 85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, im Vergleich dazu mögen die Infektionszahlen gering erscheinen. Aber das Virus lähmt unser Leben. Wie in den meisten Städten des Landes haben die Behörden auch in Isfahan Geschäfte, sowie Cafés und Restaurants geschlossen. Geöffnet sind nur Lebensmittelläden und Apotheken. Vor der Pandemie hat das Leben auf den Plätzen und in den Cafés pulsiert, jetzt ist die Stadt leer. Das zu sehen, tut weh. Zum Glück scheinen die Neuinfektionen nun langsam zu sinken. Das hat wohl mit den Schutzmassnahmen zu tun.
Habt ihr die Möglichkeit, euch gegen das Virus impfen zu lassen?
Ja, vor knapp einem Monat hat die Impfkampagne in Isfahan begonnen. Zuerst werden die Alten sowie Ärzte und Pflegepersonal geimpft. Nun informieren die Behörden die Bevölkerung per SMS oder Telefonanruf über die kommenden Impftermine, wir können uns sogar auf einer Webseite für Termine registrieren. Bis im Herbst soll ein Grossteil der Menschen immunisiert sein. Ich habe meinen Termin im Oktober.
Welche Vakzine werden verimpft?
Wir haben verschiedene Impfstoffe, den russischen etwa, auch den chinesischen. Nur den amerikanischen haben wir nicht.
Du hast gesagt, Isfahan ist leer. Das heisst, wie in so vielen anderen Ländern arbeiten auch die Menschen in Isfahan grösstenteils von zuhause aus?
Zum Teil, ja. In manchen Büros oder Organisationen, wie zum Beispiel der Organisation für Kulturgüter, kommen die Angestellten nur noch an drei Tagen pro Woche zur Arbeit. An den anderen Tagen sind sie im Home Office. Lehrerinnen und Lehrer hingegen unterrichten alle von zuhause aus. Denn die Schulen sind alle geschlossen.
Wie funktioniert bei euch das online Teaching?
Die Kids lernen über ihr Smartphone – wenn die Eltern genug Geld haben, um ihren Kindern ein Smartphone zu kaufen. Aber da sich viele Eltern kein extra Telefon leisten können, werden Mathematik, Chemie und Physik übers Fernsehen unterrichtet. Das klappt eigentlich ganz gut. Aber wie viel die Kinder mit dieser Methode tatsächlich lernen, und wie sie die Art ihrer Kommunikation beeinflusst wird, ist eine andere Frage.
Inwiefern hat die Pandemie die Gesellschaft verändert?
Die Menschen sind traurig geworden. Viele haben schwere finanzielle Einbussen erlitten oder gar ihre Arbeit verloren und kämpfen ums Überleben. Die Regierung leistet zwar finanzielle Unterstützung, aber die reicht nirgendwo hin. Auch die Kredite, die sie vergibt, mögen gut gemeint sein, nützen aber nur jenen, die sie sich leisten können. Bis vor zehn Tagen hiess es, dass die ersten Raten schon nach sechs Monaten zurückbezahlt werden müssten. Jetzt haben die Behörden immerhin verlauten lassen, dass diese Zeitspanne verlängert wird. Im Fernsehen wird darüber berichtet, wie die Existenzängste ein Nährboden sind für Streit zwischen Ehepaaren, besonders auch für häusliche Gewalt. Ich befürchte, dass die Scheidungsraten massiv steigen werden.
Was hat sich für dich persönlich verändert?
Ich habe meinen Job als Reiseleiterin aufgeben müssen. Heute bin ich vor allem zuhause, treffe kaum jemanden. Es ist fast wie im Gefängnis. Ich gehe nur raus, um zu joggen, zu wandern oder zum Arzt zu gehen. Zehn Jahre lang bin ich in der Reisebranche tätig gewesen und habe jeden Tag geliebt. Ich habe es geliebt, mit Menschen aus den verschiedensten Ländern im Iran unterwegs zu sein und nie zu wissen, welche Herausforderungen die nächste Stunde für mich bereithalten würde. Aber seit Beginn der Pandemie kommen die Touristen kaum mehr. Weil wir jeweils weite Strecken mit Bussen zurücklegen, wäre das auch zu riskant, die Gefahr, dass sich jemand mit dem Virus anstecken würde, zu hoch. Zudem sind die Öffnungszeiten zu den Sehenswürdigkeiten, wie auch zu Persepolis, begrenzt.
Der Iran hat ein Ampelsystem, das die Öffnungen reguliert. Wie funktioniert es genau?
Rot bedeutet hohe Fallzahlen, Orange signalisiert sinkende Zahlen und Gelb impliziert relative Sicherheit. Ein Beispiel: Am 11. Januar 2021 stand Isfahan auf Rot, alle Sehenswürdigkeiten waren geschlossen. Shiraz hingegen war an jenen Tag Gelb, die Sehenswürdigkeiten der Stadt konnten also besucht werden. Grundsätzlich wird der Zugang geöffnet, wenn die Ampel auf Orange schaltet. Das Ampelsystem wird aber auch bei Jobs angewendet. So können je nach dem Coiffeursalons geschlossen werden, während Banken geöffnet sind – oder Banken und Coiffeursalons gleichzeitig geschlossen werden. Bis jetzt ist es aber noch nie vorgekommen, dass gar keine Bank geöffnet hatte.
Zurück zu dir: Eine Tätigkeit aufgeben zu müssen, die man leidenschaftlich ausgeübt und die einen erfüllt hat, ist hart. Welche Spuren hat das in deiner Seele hinterlassen?
Ich bin in eine Depression gefallen und lange krank gewesen. Aber irgendwann sagte ich mir: «Bahareh, du musst dein Leben ändern. Du musst einen neuen Weg zu finden, um glücklich und beruflich erfolgreich zu werden!» Das war der Wendepunkt.
Du arbeitest heute als Italienischlehrerin. Wie kam das?
Ich hatte an der Universität angewandte englische Linguistik studiert und an einer Sprachschule in Isfahan Italienisch gelernt. Dank vieler italienischer Touristen habe ich meine Sprachkenntnisse perfektioniert. Insofern lag es nahe, dass ich mir eine zweite Karriere als Italienischlehrerin aufbaue. Gestartet bin ich vor sechs Monaten. Mittlerweile läuft das Geschäft ganz gut.
Wie kommst du denn an deine Schülerinnen und Schüler?
Ich bewerbe meine Lektionen auf Instagram und unterrichte online. Ich habe nun bereits ein paar Privatstudenten und eine Klasse mit vier Schülerinnen.
Hat dich allein dieser berufliche Neuanfang aus der Depression geholt oder haben da noch andere Faktoren eine Rolle gespielt?
Weisst du, als ich ein Kind war, sagte meine Mutter meinem Bruder und mir immer, dass wir nicht nur einen Plan für unser Leben brauchen, sondern auch einen für jeden Tag. Dieselbe Philosophie vermittelten uns später auch die Lehrerinnen und Lehrer an der Highschool. All das hatte ich aber im Lauf der Jahre vergessen – bis ich vor kurzem ein Buch über Neuanfänge las. Darin stand fast genau das Gleiche, das mir meine Mutter schon gesagt hat – eben, wie wichtig es ist, im Leben einen Plan zu haben, ja, selbst jedem einzelnen Tag eine Struktur zu geben. Das habe ich dann sofort umgesetzt.
Verrätst du uns dein Tagesprogramm?
Sieh mal (sie zeigt auf eine weisse Wandtafel hinter sich, auf der eine feine Schrift zu erkennen ist), hier halte ich die verschiedenen Punkte fest:
1) Frühstücken. Ich frühstücke zwar seit 11 Jahren, jetzt aber füge ich bewusst Lebensmittel hinzu, um meine Gesundheit nachhaltig zu stärken.
2) Ich mache meine Fitnessübungen.
3) Ich putze mein Zimmer.
4) Ich spüle das Geschirr nach dem Frühstück.
5) Ich lese ein Buch, schaue fern oder bereite meine Lektionen vor. Dafür investiere ich gut zwei Stunden. Zudem trinke ich Tee und sitze mit meiner Familie zusammen.
6) Ich gehe in einen nahegelegenen Park joggen, manchmal fährt mich mein Bruder in die Berge. Isfahan ist von Bergen umgeben, die mit dem Auto sehr gut erreichbar sind. Ich wandere jeweils etwas länger als eine Stunde. Das geniesse ich sehr.
7) Abends unterrichte ich oft, die Lektionen dauern von 21 bis 23 Uhr. Habe ich keine Italienischstunden, koche ich, übe mich im Schneidern oder male. Auch das habe ich neu für mich entdeckt.
Echt, ich bin beeindruckt!
Danke (lacht!). Mein Alltag ist sehr simpel. Aber diese Struktur hat mir mein Leben zurückgegeben, ein neues, glückliches Leben. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Was wünscht du dir für die Zukunft?
Noch vor wenigen Wochen wollte ich als Lehrerin finanziell so erfolgreich werden, dass ich mir irgendwann vielleicht ein Haus am Ufer des Zayandeh Rud Fluss würde leisten können. Doch die Zeit vergeht, und mit diesem Wandel haben sich auch meine Ziele verändert. Ein Haus zu besitzen, ist für mich heute nicht mehr wichtig. Hingegen will ich lernen – allem voran Chinesisch. Ich habe mich für einen Kurs angemeldet, er beginnt in zwei Wochen. Und: Natürlich will ich als Lehrerin erfolgreich sein – aber ich begnüge mich mit den Klassen, die ich habe.
Alle Bilder wurden von Bahareh selbst gemacht und Window Talks zur Verfügung gestellt.