Buenos Aires, Argentinien
Mara Craham, 41, Tangolehrerin
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Ich blicke auf schöne Bäume. Ich wohne am Rande von Buenos Aires, wo es sehr grün ist.
Was hast du heute gefrühstückt?
Einen Kaffee und ein Joghurt mit Trockenfrüchten. Ich habe etwas zugenommen in der Pandemie, aber eine allzu strenge Diät müssen wir Tangotänzerinnen zum Glück nicht halten.
Was vermisst du am meisten?
Zum Glück können wir momentan wieder fast wieder alles machen. Was mir aber während des Lockdowns ganz klar am meisten fehlte: Vor Publikum zu tanzen.
Was ist zu deinem wichtigsten Gegenstand geworden?
Mein Smartphone und die Internetverbindung, damit ich mit meinem Umfeld in Kontakt bleiben konnte.
Wir befinden uns hier in Buenos Aires gerade in einer entspannten Covid-Phase, denn noch haben wir Sommer auf der Südhalbkugel. Viele Lokale sind wieder offen, und es dürfen Veranstaltungen stattfinden – mit Schutzkonzept und reduzierter Personenzahl, versteht sich. Aber ob das so bleibt? Jetzt, im März, beginnt der Herbst und alle, inklusive die Regierung, fürchten, dass die Covid-Zahlen wieder steigen könnten. Das wäre dann unsere zweite Welle. Wir hoffen natürlich, dass es nicht soweit kommt. Die erste dauerte vom März letzten Jahres bis zum November – unser Herbst, Winter und Frühling. Das war eine harte Zeit, die niemand hier nochmals erleben möchte.
Ich bin Tangotänzerin und Tangolehrerin, mit 17 habe ich angefangen, heute bin ich 41, ich mache also seit über 20 Jahren nichts anderes. Zuerst war der Tango nur ein Hobby. Ich fing an, Jura zu studieren, merkte dann aber, dass der Tango meine wahre Berufung ist. Mein Tanzpartner David Chartoriski und ich treten auch in Shows zusammen auf. Auf der Bühne oder in Tangosalons, den Milongas, wie wir hier sagen. David und ich haben kommende Woche endlich unseren nächsten Auftritt, darauf freuen wir uns riesig. Die Konditionen für den Tango sind momentan gut, es gibt wieder Shows in den Tangoquartieren von Buenos Aires. Wir hoffen nur alle, dass das so bleibt.
Tango ist eine ganze Branche hier. Nicht nur Tänzer oder Tanzlehrerinnen hängen davon ab, sondern auch Verkäuferinnen von Tanzschuhen und -kleidern, Tangosalonbetreiber, Musikerinnen, Techniker oder Fotografen. Professionelle Tangoshows in einem Theatersaal finden immer noch nicht statt, da sie sich wegen der eingeschränkten Zuschauerzahl finanziell nicht lohnen. Viele in der Branche sind also noch ohne Arbeit.
Als die Corona-Krise im März vorigen Jahres Italien erreichte, schlugen die Milongas in Buenos Aires Alarm. Schon bevor die Regierung Massnahmen beschloss, machten alle Milongas dicht. Kurz darauf folgte der Lockdown. Eine Tangoshow nach der anderen wurde gestrichen. Die Wohnung durfte nur für Einkäufe oder Arztbesuche verlassen werden, es war verboten, jemanden zu besuchen, und nur wer in systemrelevanten Berufen arbeitete, hatte die Erlaubnis, den öffentlichen Verkehr zu benutzen.
Die Inflation hat uns gelehrt, erfinderisch zu werden, und nicht nur von einer Einkommensquelle zu leben.
Zu Beginn nahmen wir es noch gelassen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so lange nicht mehr arbeiten, ja, aus dem Haus gehen könnte. Bevor wir in den Lockdown gingen, hatte ich meinen Schülerinnen und Schülern noch gesagt, dass wir uns bald wiedersehen würden. Glücklicherweise hatte ich Ersparnisse, also war ich erst gar nicht übermässig besorgt. Aber als dieser harte Lockdown immer länger und länger ging, bekam ich Angst. Ich verdiente nichts. Alle Shows waren gestrichen, Unterricht durfte ich nicht geben.
Aufgrund der Inflation, die seit Jahren andauert, hat Argentinien eigentlich bereits ein wirtschaftliches Problem. Nun kommen für die Bevölkerung noch Geldsorgen wegen der Pandemie hinzu. Einen Vorteil haben wir aber: Die Inflation hat uns gelehrt, erfinderisch zu werden, und nicht nur von einer Einkommensquelle zu leben. Als ich vor 20 Jahren eine Stelle an einer Tangoschule erhielt, konnte ich noch sehr gut davon leben. Doch bald darauf musste ich zusätzliche Tango-Jobs generieren, weil mein Lohn aufgrund des Währungszerfalls nicht mehr ausreichte. Von diesen Erfahrungen konnte ich nun also profitieren.
Da ich auch Yogalehrerin bin, begann ich, online Yoga zu unterrichten. Das funktionierte zum Glück sehr gut. Weil wir ja alle zu Hause eingesperrt waren, kam für viele der therapeutische Effekt von Yoga sehr gelegen. Mir half das nicht nur, um etwas Geld zu verdienen, sondern auch, um mich beschäftigt zu halten, ich bin single und wollte nicht alleine in meiner Wohnung zum Nichtstun verdammt zu sein. Danach fing ich an, via Zoom Tangolektionen zu geben. Das ist zwar etwas komplizierter als Yoga, denn ich kann ja niemanden anfassen, um die Haltung zu korrigieren, sondern muss alles mit Worten erklären. In meinem Kurs, der auf ältere Teilnehmerinnen und Teilnehmer zugeschnitten ist, zeige ich den Frauen jeweils, wie es geht, auf den hohen Absätzen der Tangoschuhe zu balancieren. Das konnte ich online natürlich nicht bieten.
Ich fing an, via Zoom Tangolektionen zu geben. Das ist zwar etwas komplizierter als Yoga, denn ich kann ja niemanden anfassen, um die Haltung zu korrigieren.
In jener Zeit sass mein Tangopartner David fast ein Jahr lang in London fest, wo er ursprünglich für fünf Monate als Tangolehrer gebucht worden war. Erst im September 2020, als die Grenzen wieder geöffnet wurden, konnte er nach Bueons Aires zu seiner elfjährigen Tochter zurück. Er hat also einen völlig anderen Lockdown erlebt als ich. Immerhin war es ihm möglich, in London über sein Engagement hinaus Tangounterricht zu geben - mit reduzierter Teilnehmerzahl. Sonst wäre er ohne Geld in England festgesessen. Das englische Pfund ist enorm hoch im Vergleich zum argentinischen Peso.
Mein Erspartes habe ich während des Lockdowns praktisch aufgebraucht. Einige Tangolehrerinnen und -tänzer, die sich in einer besonders prekären finanziellen Lage befanden, bekamen ein bisschen Geld aus dem Nationalen Kunstförderfonds der Regierung. Doch geschah auch sehr Schönes: Nach einiger Zeit im Lockdown wurde die Kulturszene von einer grossen Solidaritätswelle erfasst. So hatten zum Beispiel Private eine Liste erstellt, auf der sich Tangoschaffende eintragen konnten, wenn sie es nicht mehr schafften, ihre Miete oder andere Rechnungen zu bezahlen. In der Reihenfolge der Dringlichkeit wurde die Probleme dann angegangen. Auch der Verein der Tangobranche – Trabajadores Tango Danza – organisierte sich und verteilte Essenspakete an Kolleginnen und Kollegen, die sich nichts mehr leisten konnten. Die Betroffenen hatten die Möglichkeit, sich anonym bei ihnen melden, damit niemand Gefahr lief, aus falschem Stolz darauf zu verzichten.
Leute, die regelmässig Tango tanzen, vermissten das Tanzen sehr. Als wir uns zumindest im Freien wieder in kleinen Gruppen treffen durften und BBQs veranstalteten, baten mich Freundinnen und Freunde oft, ihnen doch gleich eine Tangolektion zu geben. Momentan darf ich zum Glück wieder im Studio unterrichten. Das Schutzkonzept besagt, dass im Unterricht nur miteinander tanzen darf, wer aus demselben Haushalt kommt oder auch privat ein Paar ist. Bisher funktioniert das gut, es hat sich noch keine meiner Schüler angesteckt.
Wie es mit dem Tango nach der Pandemie weitergeht, weiss keiner. Viele Tangoschulen und Milongas wurden von den Betreibern für immer geschlossen, viele Tangokünstlerinnen haben den Beruf an den Nagel gehängt und gar manche Kolleginnen und Kollegen von mir sind aus Buenos Aires weg- und in ihre Heimatdörfer zurückgezogen und arbeiten wieder auf ihrem Beruf, den sie gelernt hatten, bevor sie sich dem Tango verschrieben haben. Ich bin optimistisch; ich glaube fest daran, dass die Leute nach Covid vorwärtsblicken und die Tangoszene wiederbeleben werden. Und wenn ich sehe, mit wie viel Kreativität Events unter freiem Himmel veranstaltet werden, werde ich noch optimistischer.
PS: In Argentinien leben 44,5 Millionen Einwohner, davon 15 Millionen in Buenos Aires und seiem urbanem Umfeld. Aktuell verzeichnet das Land insgesamt 53'252 Covid-Tote, pro Million Einwohner werden 47'500 Covid-Fälle gezählt, das ist weniger als die Schweiz mit 65'300 Fällen pro Million Einwohner, Frankreich mit 60'000 und Holland mit 66'000, jedoch mehr als Chile, 45'100 Fälle, oder Kolumbien, das 44'500 Fälle verzeichnet.
Text: Flurina Dünki