Izmir, Türkei
Tolga Demirsar, 24, Student
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Ein paar Pinienbäume und Palmen. Es ist eine schöne Aussicht, schöner als der Blick auf eine Strasse.
Was hast du heute gefrühstückt?
Dasselbe wie fast das ganze Jahr über: Mein Vater wartet jeweils, bis ich aufwache, und dann machen wir zusammen Frühstück: Hartgekochte Eier, weisser Käse, Oliven, etwas Marmelade und Gebäck. Dazu gibt es Tahin Pekmez, das süss ist wie Marmelade, fast wie ein Dessert, mit Sesampaste und Melasse. Und Zahter, ein Gewürz, das wir mit Olivenöl mischen und dann mit Brot dippen. Wir essen jeden Tag ein grosses Frühstück. Schon nur, um es jetzt zu beschreiben, brauchte ich zwei Minuten.
Was vermisst du am meisten?
Ich bin nicht sicher. Ins Ausland reisen, oder im Ausland zu leben vermutlich. Das vermisse ich, weil ich jetzt schon so lange in der Türkei bin. Und meine Freunde, die nicht hier sind. Ich habe neue Leute getroffen, und einige meiner Freunde kurz gesehen, aber zu meinen besten Freunden hatte nicht allzu viel Kontakt. Ich denke, dass ich sie am meisten vermisse.
Was ist dein wichtigster Gegenstand?
Mein wichtigster Gegenstand war vermutlich ein Buch, oder meine Gitarre. Ich habe jeden Tag mindestens eine Stunde Gitarre gespielt. Das war fast therapeutisch für mich.
Ich habe Tolga Demirsar (24) vor einem Jahr in Izmir kennengelernt, Anfang März 2020. Damals war die chinesische Stadt Wuhan seit über fünf Wochen schon komplett abgeriegelt und das Coronavirus hatte Europa erreicht. In Izmir jedoch schien das Virus noch weit weg: Cafés, Restaurants und Läden waren offen, die Strassen belebt wie immer.
Erst am 11. März meldete die Türkei den ersten Coronafall, kurz darauf verhängte die Regierung einen Lockdown. Ich flog zurück Europa, und Tolga, der für 2020 eigentlich ein Sabbatical geplant hatte, um zu reisen und zu fotografieren, blieb in Izmir.
Jetzt, ein Jahr später, erzählt er, wie dieses Jahr der Pandemie für ihn war.
„Seit wir uns am Anfang der Pandemie trafen, haben sich viele Dinge verändert – vor allem meine Vorstellung davon, wie sich mein Leben entwickeln würde. Ich glaube, das ging vielen Menschen so.
Eigentlich sollte 2020 das wichtigste Jahr meines Lebens werden. Ich hatte noch das letzte Semester vor mir in meinem Master an der Brandeis Universität in den USA. Doch Ende 2019 entschied ich, das Studium für ein Jahr zu unterbrechen. Ich wusste schon, dass ich nach meinem Abschluss nicht einfach in irgendeinem Wirtschaftskonzern enden wollte. Als ich für ein Praktikum ein paar Wochen in Nepal verbrachte, entdeckte ich meine Leidenschaft für Fotografie.
Also plante ich, ein Jahr lang zu reisen und zu fotografieren, um mir ein Portfolio aufzubauen. Ich wollte nach Marokko, vielleicht in den Iran, nach Pakistan und Indien. Als ich das plante, wusste niemand etwas von Corona – ausser vielleicht die chinesische Regierung.
Anfang 2020 ging ich aber zunächst zurück nach Izmir. Hier hatte ich meinen Bachelor gemacht, und inzwischen war mein Vater mit seiner Freundin hierher gezogen. Ich wollte mir einfach ein bisschen Zeit nehmen. Als das mit Corona plötzlich ein Thema wurde, dachte ich am Anfang nicht, dass wir in einem Lockdown enden würden. Ich wusste ja nicht, was es bedeutet, mit einer Pandemie zu leben.
Im Januar und Februar lebte ich noch mein normales Leben und arbeitete an meinem Fotoprojekt über Kinder in Izmir. Ziemlich genau nachdem du abgereist warst, Mitte März, zog ich bei einem Freund ein für ein paar Wochen. Es war eine komische, aber auch eine interessante Zeit, weil ich damals ja kaum etwas wusste über Corona. Heute wissen wir viel, aber damals wussten wir nichts. Also bin ich einfach drinnen geblieben, weil die ganze Welt drinnen geblieben ist. Ich hatte Angst. Gleichzeitig erinnere ich mich, dass wir damals noch keine Masken trugen, wenn wir in den Supermarkt gingen.
In der Türkei war es das Gleiche wie überall: Die Menschen kauften panisch die Supermärkte leer, Toilettenpapier, Pasta und Konservendosen waren ausverkauft. Ein Wochenende ist mir speziell in Erinnerung geblieben, da waren schon ein paar Wochen im Lockdown vergangen. Die Regierung kündigte plötzlich an, dass über das Wochenende alles zu sein würde – also auch alle Supermärkte, alles ausser die Bäckereien und die Läden, die Trinkwasser vertrieben. Obwohl das Wochenende nur zwei Tage dauert, sind die Leute alle raus und in die Läden geströmt, um zu kaufen, was sie kriegen konnten. Es war total voll, überall. Diese kleinen Fehlplanungen können wirklich mehr Ärger verursachen, als sie eigentlich zu verhindern versuchen.
Überhaupt traue ich den offiziellen Angaben der Regierung nicht wirklich. Das habe ich noch nie getan, aber am Anfang der Pandemie dachte ich noch, dass die Ansteckungszahlen und die Todeszahlen zumindest akkurat sein würden. Doch dann fingen manche Gemeinden an, ihre Todeszahlen zu veröffentlichen. Da hiess es an einem Tag etwa, dass in Istanbul 200 Menschen an Corona gestorben seien – während die nationale Regierung 250 Fälle für das ganze Land meldete. Dazu muss man sagen, dass Istanbul von der Opposition regiert wird, es sieht also auch während der Pandemie aus wie Business as usual in der türkischen Politik. Doch du kannst halt nicht wirklich etwas dagegen machen.
Ich dachte, das Ganze geht vielleicht ein paar Monate. Aber irgendwann habe ich gemerkt: das hört nicht auf. Es hat eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass ich gerade die Zeit meines Lebens verpasse. Es war das erste Jahr, das ich mir extra frei genommen hatte, um zu reisen. Und dann blieb ich einfach in Izmir, mit meinem Vater, seiner Freundin und ihrem Hund.
Aber irgendwie habe ich diese Zeit auch genossen. Das ist ein Privileg, ich weiss. Viele Leute können nicht arbeiten, und selbst wenn ihnen das Geld ausgeht, hilft ihnen die Regierung nicht aus. Mein Vater konnte mir schlecht sagen, such dir einen Job. Also habe ich angefangen, Bücher zu lesen. Manchmal bin ich auch raus, um in Izmir Fotos zu machen, vor allem im Sommer. Aber die meiste Zeit habe ich einfach zu Hause gelesen: Philosophie, Poesie. Und Dostoyevski. Wenn mein Vater und seine Freundin zur Arbeit gegangen waren, setzte ich mich auf den kleinen Balkon zusammen mit dem Hund, trank Kaffee und las. Manchmal tat ich den ganzen Tag nichts anderes, und ich empfand es als Privileg. Es war wie meditieren: Ich konnte einfach da sitzen und musste nichts machen.
Im Laufe dieses Jahres änderten sich meine Pläne für die Zukunft. Ich bin froh, hatte ich dieses Jahr. Ich hatte das Gefühl, viel über mich gelernt zu haben. Anfang 2021 beschloss ich, dass ich meine Pläne mit der Fotografie erstmal verschieben würde. Ich werde den Business-Master abschliessen, und mir dann doch einen Job suchen, am besten in Europa, für zwei, drei Jahre. Ich habe einfach gemerkt: Was mache ich hier? Ich bin nicht jemand mit einem deutschen Pass, der eine Weile in einem Café arbeiten und dann nach Guatemala reisen kann. Ich weiss das jetzt. Aber ich werde die Fotografie dennoch nicht aufgeben. Denn die Fotografie hat verändert, wie ich die Welt betrachte.