Cuanacaxtitlan, Guerrero, Mexiko
Maria Pioquinto (69), Schneiderin
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Ich sehe meine Truthähne, die ich züchte. 20 sind es jetzt. Ich hatte einst mehr, aber weil ich wegen Covid weniger Einkünfte von meiner Arbeit als Schneiderin habe, musste ich mehr verkaufen als sonst.
Was hast du heute gefrühstückt?
Ich habe grüne Bohnen aus meinem Garten gegessen und Zitronensaft drangegeben. Ein leckeres Gericht.
Was vermisst du am meisten?
Meine Selbstständigkeit. Besorgungen für meine Arbeit zu machen oder Einkäufe.
Was ist für dich zum wichtigsten Gegenstand geworden?
Meine Hühner sind wichtiger geworden. In diesen Zeiten kommt öfters mal kein Geld rein, da bin ich froh, dass ich eigene Hühner habe, die ich dann schlachten kann. So habe ich zu Essen.
“Als das Virus nach Mexiko kam, hat mein Dorf beschlossen, unsere Gemeindegrenzen zu schliessen. Das war im April. Niemand konnte mehr raus oder rein, denn ausreichend Gesundheitsversorgung haben wir hier nicht in Cuanacaxtitlan. Wir haben nur ein kleines Gesundheitszentrum mit einem Assistenzarzt direkt ab der Uni. Beatmungsgeräte hat dieses keine. Wir wohnen abgelegen in einem Gebirgstal. Die nächste grosse Stadt ist Acapulco, und die ist sechs Stunden entfernt.
Schon nach zwei Monaten wehrten sich viele Leute im Dorf gegen die Massnahmen. Einige wollten ihre Waren wieder verkaufen können oder Dinge von aussen einkaufen für ihre Läden. Als die Grenzen ums Dorf dann im Juni wieder geöffnet wurden, erkrankten viele Leute an Covid.
Die Kriminalität im Dorf ist dadurch glücklicherweise nicht gestiegen. Wir sind nicht im Einflussgebiet von Drogenbanden, also haben wir diese Probleme nicht. Aber Kriminelle haben wir natürlich trotzdem, wirklich sicher fühlt man sich also nie. Und junge Männer, die Polizist werden wollen, gibt es leider immer weniger.
Die Langeweile drückt nach all den Monaten auf meine Stimmung. Ich bin seit April mehrheitlich im Haus und in meinem Garten. Ich verlasse es nur, wenn ich dringende Besorgungen machen muss. Ich bin 69 Jahre alt, deshalb muss ich aufpassen, dass ich mich nicht anstecke mit Covid. In meinem Dorf haben wir viele Fälle im Moment. Vor ein paar Tagen erst ist meine Schwester am Virus gestorben. Privatärzte und Gesundheitszentren in der Nähe haben sie abgewiesen, als ihre Familie sie behandeln lassen wollte. Nirgends ist man hier für das Virus ausgerüstet.
Weil ich selber keine Besorgungen machen sollte, macht meine Tochter die Einkäufe für mich. Aber vor zwei Wochen hat auch sie sich mit dem Virus infiziert. Sie ist wieder auf dem Weg der Genesung, aber sie hat ihren Schwiegervater angesteckt, der im selben Haus wohnt. Er hat es nicht überlebt. Also gehe ich manchmal doch selbst einkaufen. Tomaten, Pfefferschoten - was ich eben nicht im Garten habe. Ich muss ja auch Sachen kaufen für meine Arbeit. Bis im Spätsommer wächst bei mir aber ohnehin sehr wenig im Garten, da der Regen erst im August einsetzt. Dass ich zur Trockenzeit bloss Kräuter selber pflanzen konnte, ist im Covid-Jahr besonders schlimm, denn die Lebensmittel sind teurer geworden. Die Läden hier in den Dörfern werden viel weniger oft beliefert. Bringen die Lieferanten die Waren in die Läden in meiner Nähe, ganz nach hinten ins Dorf, sind sie noch teurer. Ich muss immer in ein Sammeltaxi steigen, um ins Dorfzentrum zu gelangen. Normalerweise würde ich dabei auch gleich meine Tochter besuchen. Stattdessen muss ich jetzt am Haus vorbeigehen, ohne zu klopfen.
Ich bin Schneiderin. Das habe ich mir selbst beigebracht, denn mein Mann verdiente zu wenig für unsere Familie mit sieben Kindern. In meinem Wohnzimmer stehen zwei Singer-Nähmaschinen. Wegen Covid habe ich schon seit Monaten kaum noch Aufträge. Die Leute verdienen weniger oder gar nichts und können sich keine geschneiderten Kleider leisten, und ich kann nicht Stoff einkaufen gehen, wie ich es normalerweise tue. Die nächste grössere Stadt ist Acapulco, dort gehe ich normalerweise einkaufen. Aber sechs Stunden Busfahren und dann das Gedränge in der grossen Stadt, das wäre jetzt ein zu grosses Risiko. So stricke ich momentan nur Spitzen für Servietten.
Ich habe in den letzten Monaten auch ein paar meiner Truthähne verkauft, die man hier normalerweise nur als Festbraten isst. Wahrscheinlich hätte ich mehr verkaufen können, aber dafür müsste ich von Tür zu Tür gehen und sie den Leuten anbieten. Doch das wäre jetzt zu gefährlich.
Hier in Mexiko wird kaum für das Wohl der Menschen auf dem Land geschaut. Unser Gemeindeoberhaupt erkundigt sich auch nicht, wie es um uns steht oder was uns Bewohnern in einer Zeit wie dieser fehlt. “
Mexiko hat 129 Millionen Einwohner. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation hat das Land derzeit 753'000 bekannte Covid-19-Fälle und 78'500 an Covid-19 Verstorbene. Mit 610 Todesfällen pro eine Million Einwohner zählt Mexiko zu den 15 Ländern mit den meisten Covid-Toten weltweit. Mit Abstand am meisten Fälle zählt die Megastadt Mexiko City und die unmittelbare Umgebung, wo die Hälfte aller Einwohner des Landes wohnhaft ist.
Flurina Dünki