Bagdad, Irak
Ameen Mokdad Salim, 31, Künstler
Manche können sich kaum mehr an eine Zeit im Frieden erinnern. Seit den 1980ern reissen die bewaffneten Konflikte und humanitären Krisen im Irak nicht ab. Wie also durchlebt eine von Krisen geschüttelte Gesellschaft die Pandemie?
Der Irak wurde von der Pandemie schwer getroffen. Bis zu 5,000 neue Fälle werden pro Tag von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigt. Jede Woche sterben in etwa 500 Menschen an dem Virus. Mit über 30 Prozent der registrierten Fälle ist die Hauptstadt Bagdad am meisten getroffen. Viele Krankenhäuser sind überlastet. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen meldete schon im September, dass es nicht genug Betten gibt und die langen Wartelisten für PatientInnen die Situation mit jedem Tag weiter verschlimmern.
Der Künstler Ameen Mokdad Salim, in Mosul geboren, lebt seit 2017 in Bagdad. Hier spricht er mit Vincent Haiges über seine persönlichen Eindrücke aus der Hauptstadt, in der sich die Pandemie immer weiter ausbreitet.
Ameen, was hast du heute gefrühstückt?
Einen Traubensaft und ein Stück Samoon (ein knuspriges Hefebrot).
Was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst?
Ein typisches “Baghdadi-”Haus aus den 50er Jahren, bunte Bäume und ein paar Kabel hier und da. Ab und zu fliegen auch Vögel vorbei.
Was ist dein wichtigster Gegenstand?
Na, meine Musik (lacht). Im Ernst, meine Violine.
Was vermisst du in dieser Zeit am meisten?
Die Musik vermisse ich immer. In meiner Zeit in Mosul wollte ich einfach nur wieder in den Straßen spielen.
Wie ist die Stimmung in diesen Tagen in Bagdad? Spielt Corona im täglichen Leben eine Rolle?
Auf den Straßen und in den Einkaufsläden tragen ein paar wenige Menschen Masken. Es ist nicht ihre oberste Priorität. Man muss bedenken, dass auch vor Corona nur wenige Menschen in der Stadt zu kulturellen Veranstaltungen gingen oder mal ins Kino im Einkaufszentrum. Das bedeutet, dass die Pandemie für viele im Alltag nur bedeutet, eine Maske zu tragen. Die kleinen Cafés in der Nachbarschaft sind noch offen. Man begrüßt sich darin noch immer mit einer Umarmung oder einem Kuss auf der Wange.
Natürlich gibt weniger Jobs und auch Geld, aber die gesellschaftlichen Einschränkungen scheinen die Menschen der Unter- und Mittelschicht (auch wenn ich diese Begriffe nicht gerne benutze) nicht weiter zu beeinträchtigen.
Auf der anderen Seite haben sich viele auch noch nicht an die neuen Einschränkungen gewöhnt. Zum Beispiel gibt es die neue Regel, dass der Passagier im Taxi Kareem (Fahrtunternehmen wie Uber) jetzt hinten sitzen muss und nicht mehr vorne einsteigen darf. In Bagdad ist das etwas komplett Ungewohntes. Hier musst du als Passagier neben dem Fahrer sitzen, damit die Polizei erkennen kann, wer im Auto fährt.
Ich genieße diese neue Regel, weil mir die endlosen Gespräche mit den Taxifahrern manchmal zu viel sind. Aber jetzt? Jetzt wirst du an jedem Checkpoint von der Sicherheitspolizei angehalten und gefragt, ob du ein Ausländer bist. Wenn du die Beamten fragst, warum sie das glauben, deuten sie nur auf den Rücksitz.
Ist Corona ein politisches Thema? Werden die Menschen von der Regierung über die Risiken aufgeklärt?
Es gibt viele Probleme auf den Straßen von Bagdad, und Corona vermischt sich mit allen. Manchmal steht die Pandemie an der Spitze der Regierungsagenda, manchmal sind es andere Themen. Insgesamt würde ich jedoch sagen, dass die PolitikerInnen kein echtes Interesse an dem Thema haben.
Wenn die Menschen sich zum Demonstrieren auf den Straßen versammeln wollen [seit Oktober 2019 erlebt der Irak eine intensive Phase von Demonstrationen, die vor allem vom Unmut gegen Korruption und Arbeitslosigkeit der Jugend getragen wird], verhängt die Regierung kurzerhand eine Ausgangssperre von zwei oder drei Tagen, unter dem Vorwand, das Infektionsrisiko zu senken. Jeder, der trotzdem demonstriert, wird beschuldigt, das Virus zu verbreiten.
Die Bevölkerung hat in der Vergangenheit gewaltvolle und unsichere Zeiten erlebt. Glaubst du, dies hilft den Menschen heute mit dem Virus umzugehen?
Da gibt es eine Verbindung. Sie kümmern sich nicht wirklich um das Virus, weil, wie du sagst, die Menschen schon viel durchgemacht haben. Es ist nichts Neues, dass man sterben könnte. Das ist auch der Grund, warum es die Menschen nicht so ernst nehmen, weil es so viele andere Dinge gibt, die sie töten oder in Gefahr bringen können. Die Leute sagen, was habe ich zu verlieren? Ich lebe mit der Gefahr jeden Tag.
Die Musik vermisst du also am meisten?
Ich kann auf der Straße aus zwei Gründen nicht spielen. Zum einen wegen der Gesundheit, zum anderen wegen der Sicherheit. Die Sicherheitssituation hat sich in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert. Es gab viele Ermordungen und Entführungen (seit den Unruhen im Oktober 2019 versuchen Milizen und andere bewaffnete Gruppen, Demonstrierende und AktivistInnen einzuschüchtern). Doch ich brauche die Musik. Während der Ausgangssperre habe ich jeden Tag auf Facebook oder Instagram gesendet. Heute mag ich diesem Drang nicht mehr auf allen Kanälen nachgehen.
Auf der anderen Seite sind dies auch auf eine Art faszinierende Zeiten, da eine globale Gesellschaft auf einmal vor dem gleichen Problem steht
Genau, es vereint Menschen in einer sehr seltsamen Art und Weise. Es ist der Beweis dafür, dass wir alle auf diesem einen Planeten wohnen und wir auf ihn aufpassen müssen, ob es nun Luftverschmutzung oder Kriege sind. Was im Irak passiert, hat globale Auswirkungen – den berühmte Butterfly-Effekt. Hinter jeder Bühne der politischen oder religiösen Propaganda leben wir global gesehen unter dem gleichen Dach. Also müssen wir aufeinander achten.
Erinnert dich dieser Ausnahmezustand in Zeiten von Corona auch an Mosul während der IS-Herrschaft?
Diese Zeit der (unsichtbaren Gefahr) erinnert mich ausgesprochen viel an Mosul während der IS-Zeit [Mosul, Ameens Heimatstadt, wurde von 2014-2017 vom sogenannten Islamischen Staat besetzt]. Jeder hatte einen langen Bart. Wenn wir einander auf der Strasse begegneten, fühlten wir das Gleiche, wir teilten dieselbe Gefahr. Der Bart war unser Schutz, wie die Maske heute. Ein langer Bart bedeutete, dass das Leben unter dem IS ungefährlicher wurde [unter der IS Herrschaft sollten alle Männer einen langen Bart tragen].
In dieser Zeit musste ich wieder zu mir finden. Es waren aber auch aufregende Zeiten. Wenn ich etwas komponierte war ich unglaublich aufgeregt. Ah, ich habe es geschafft! Es ist mir egal, ob ich sterbe, denn ich habe etwas erschaffen, was ich erschaffen wollte. Es klingt ironisch und seltsam, aber manchmal vermisse ich sogar diese Zeiten. Während der letzten Jahre war ich so beschäftigt mit anderen Projekten, dass ich nicht viel Zeit zum Komponieren hatte. Dabei ist das Komponieren für mich die glücksbringendste Sache der Welt. Corona hat mir diese Zeit wieder gegeben. Ich habe komponiert, an meinem Album gearbeitet und meinen Film fertig geschnitten.
Diese Zeit hielt auch eine Möglichkeit bereit, innezuhalten und sich zu fragen, warum uns das passiert. Ich denke, es gibt ein großes philosophisches Potenzial in dieser weltweiten Bedrohung. Auch wenn nur ein paar Menschen von dieser Erfahrung profitieren können.
Hast du etwas über Corona komponiert?
Ich will dieses Thema nicht direkt in meine Arbeit einfließen lassen. Ich wollte auch nie etwas über den IS komponieren. Das lässt diese Zeit nur länger leben. Das will ich nicht. Jeder weiß, es gibt den IS, es gibt Covid-19 - doch es wird nicht ausdrücklich in meiner Musik thematisiert. Meine Inspiration kommt von dem ganzen Wahnsinn drumherum.
Hoffentlich wird es bald vorbei sein.
Ja, aber ich warte nicht, bis es vorbei ist. Während der IS-Zeit war es das Schlimmste zu warten, bis es vorbei ist. Eine Freundin fragte mich vor ein paar Tagen, wann diese Corona Zeit endlich vorbei sein wird. Ich antwortete ihr, dass sie nicht warten soll, bis es vorbei ist. Das frisst uns nur von innen auf. Keine schreckliche Zeit hört auf, wenn wir auf ihr Ende warten.
Ich akzeptiere, dass sie da ist, halte mich beschäftigt und dann, eines Tages, ist sie auf einmal weg.
Das Gespräch führte der Fotograf Vincent Haiges. Der Fotograf lebte selbst über ein Jahr lang in Bagdad: https://vincenthaiges.com