WER WAREN WIR IM AUSNAHMEZUSTAND?

Teheran, Iran

Teheran, Iran

Raha N.*, 30, Teheran

131,652 Menschen im Iran sollen sich mit dem Corona-Virus angesteckt haben. Die Zahl der Neuinfektionen geht mittlerweile zurück – doch an der offiziellen Statistik gibt es erhebliche Zweifel. Die Pandemie trifft das Land in einer schweren Wirtschaftskrise. Das Durchschnittseinkommen der Iraner liegt bei 2 Millionen Toman im Monat, das sind knapp 160 Euro. Sich einen Zahn ziehen zu lassen, kostet etwa die Hälfte eines Durchschnittsgehalts. Die US-Sanktionen hatten das Land schon weitgehend vom Weltmarkt abgeschnitten, die Pandemie erledigte den Rest. In Teheran müssen sich die Bewohnerinnen jeden Tag an neue Preise gewöhnen.

Raha N.* ist eine von ihnen. Ihren Nachnamen behält sie für sich, ebenso wie ihren Arbeitgeber. An fünf Tagen in der Woche fährt sie in ein kleines Büro im Norden der Stadt. Normalerweise schaut sie danach oft bei ihrer Grossmutter vorbei. Seit der Ausgangssperre im März jedoch konnten die beiden sich nicht mehr sehen. Sie vermisst die Datteln in den Glasschalen am Sofatisch, die kleine Katze im Schuhkarton, die ihre Grossmutter morgens zum Spazieren gehen unter ihren Mantel steckt, “damit sie frische Luft schnappen kann”, und ihre Gelassenheit. Mitten in der Krise ist Raha ins Zentrum der Stadt umgezogen. Morgen Sonntag wird ihre Grossmutter sie zum ersten Mal in ihrer neuen Wohnung besuchen.

Raha, was siehst du, wenn du aus dem Fenster blickst? 

Ich sehe ein zerfallenes Haus. Es sieht richtig schön aus im Schatten. Dann sind da viele leere Bürozimmer. Hellgrüne Bäume tasten sich zu den benachbarten Fensterscheiben vor. Weit dahinter sehe ich heute sogar die Spitzen der Tochal-Gebirgskette.

Was hast du heute Morgen gefrühstückt? 

Die Erdbeeren auf dem Markt gestern sahen so gut aus – da habe ich gleich zwei Schalen mitgenommen. Zuhause habe ich sie zehn Minuten ins Wasser gestellt, damit auch ja nichts dran kleben bleibt, Zimt und Zucker drauf, ab in den Kühlschrank. Heute Morgen, gleich nach dem Aufstehen, waren sie genau richtig. Dazu noch eine Tasse Tee und ein Toastbrot mit Frischkäse. 

Was vermisst du am meisten in dieser Zeit der Pandemie? 

Die Bewegungsfreiheit. Im März wollte ich zum ersten Mal seit zwei Jahren in den Urlaub fahren. Auf einmal wurde der Himmel über uns eingefroren und die Grenzen hochgezogen. Es gingen keine Flüge mehr. Ohne Auto konntest du nicht mehr aus der Stadt rausfahren. Die sonst überfüllten U-Bahnen waren lahmgelegt. Die Busse standen blind am Bahnhof herum. Keiner konnte den Frühling begrüssen. Die Felder. Die Flüsse. Dabei ist das die schönste Zeit im Iran.

Gab es einen Ort, an den du dich zurückziehen konntest? 

Der sicherste Ort waren wohl meine Gedanken. Was mir am meisten Frieden gibt ist das Meer. Manchmal schließe ich die Augen und träume davon, ins Wasser zu tauchen. Genau so weit, dass ich zwischen Sand und Oberfläche schwebe.

Welcher Gegenstand ist dir am wichtigsten geworden in den letzten Wochen? 

Das Desinfektionsmittel.

Was hat sich am meisten für dich verändert? 

Auf einmal habe ich Angst davor, Menschen anzufassen. Oder mich an Gegenständen auszustrecken, die mir immer sehr vertraut waren: Eine Autotür. Ein Glas. Die Haarsträhne einer Freundin. Es ist ein komisches Gefühl, immer erst einen Schritt vor und dann erschrocken wieder zurück zu gehen.

Konntest du in den letzten Wochen arbeiten?

Ich habe kein Auto und nehme immer die U-Bahn, wie Millionen andere Menschen hier. Doch auf einmal war ich auf ein Taxi angewiesen. Das freut mich zwar für die Taxifahrer, die hier bis ins hohe Alter schwer arbeiten müssen. Aber es war ein beklemmendes Gefühl, durch die Stadt zu fahren während der Ausgangsbeschränkung. Noch immer schiebe ich mir eine Plastiktüte unter den Hintern, egal wo ich draussen sitze. Manchmal nehme ich mir auch eine Hose zum wechseln ins Büro mit. Dort tragen wir alle Masken und Handschuhe. Irgendwie habe ich mich schon dran gewöhnt.

Wie hast du den Anfang der Ausgangsbeschränkung erlebt?

Am Anfang dachte ich, ich höre schlecht. Es war, als hätte jemand den Ton abgedreht. Ich konnte auf einmal die Vögel hören, und sie wurden immer lauter. Wenn dies alles nicht solche Folgen hätte, würde ich sagen, es war eine fantastische Woche.

Das Virus traf uns in der Zeit, als unser Neujahrfest anstand. Normalerweise drängen sich die Menschen in den Geschäften, es ist wie Weihnachten in westlichen Ländern. Jeder gibt viel Geld für Geschenke und neue Vorhänge aus. Die Teppiche hängen von den Balkonen, Böden werden geschrubbt. Aus dem ganzen Land reisen Familienangehörige an. Die ganze Stadt lärmt.

Doch dieses Jahr blieben die Meisten zu Hause. Nicht alle natürlich. Am Anfang wusste kaum jemand, was man jetzt eigentlich darf und was nicht. Aber ich erinnere mich an den Regen. Der Himmel riss auf zu Neujahr, während wir uns einschlossen.

Hattest du eine Erkenntnis in dieser Zeit?

Im Grunde, dass wir Arbeiter noch immer Sklaven der modernen Gesellschaft sind.  Unsere Lebensweise macht uns nicht glücklich, sie wirft Schatten auf die meisten und führt nur wenige ins Licht. Das merkt man natürlich in Zeiten des kollektiven Notfalls am meisten. Doch das war auch schon davor so.

Kannst du hier konkreter werden?

Mein Vater ist schon über sechzig und arbeitet noch immer jeden Tag. Gesundheitlich geht es ihm nicht gut, aber trotz der Gefahr durch das Virus kann er nicht zu Hause bleiben. Er würde seinen Job verlieren. So geht das schon sein Leben lang. Und so geht es mir auch. Als einfache Arbeiter sind wir nichts. Die meisten Menschen auf der Welt bleiben unsichtbar. 

Welche Pläne musstest du ändern?

Eigentlich sollten meine Weisheitszähne raus. Der Termin wurde verschoben. Wann ich wieder zum Zahnarzt gehen kann, weiß ich immer noch nicht. Zahlen kann ich die OP nicht mehr. Wegen der Inflation ist das Geld langsam gar nichts mehr wert. Die wirtschaftlichen Folgen treffen hier eine Gesellschaft, die schon seit Jahren ums Überleben kämpft.

Was hat dich überrascht in der letzten Zeit? 

Ich habe gemerkt, wie sehr ich von anderen Menschen abhängig bin. Bei jeder kleinen Sache, die ich hier unternehmen will, bin ich auf andere angewiesen. Kürzlich bin ich umgezogen. Normalerweise wäre ich mit der U-Bahn zum großen Samstagsflohmarkt gefahren, hätte Küchenutensilien und Stühle, ein paar Geschirrtücher gekauft. Aber jetzt brauchte ich jemanden, der mich in ein Möbelgeschäft fährt und wieder abholt. Der mir sagt, wo ich noch einkaufen darf und wo nicht. Meine Waschmaschine läuft immer noch nicht. Die Klempner haben wohl eine Menge zu tun. Zeit, selbst einer zu werden.

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Wann hast du das letzte Mal so richtig gelacht? 

Ich würde sagen, ich lache eigentlich so richtig viel. Aber es ist seltsam – an das letzte Mal kann ich mich gerade gar nicht erinnern. 

Erinnerst du dich an einen Traum in letzter Zeit? 

Vor etwa fünf Tagen träumte ich, dass mein Freund einen Autounfall hatte. Danach war er paralysiert. Ich schob ihn mit dem Rollstuhl aus dem Krankenhaus. Wenn ich dran denke, bin ich richtig beschämt, aber ich fühlte mich, als hätte ich die Beine verloren. Als wäre ich auf einmal noch unbeweglicher. Als hätte man mich eingesperrt. Und nicht ihn. Vielleicht war das aber auch, weil ich zuvor eine Statistik über Autounfälle gelesen habe.

Wurden die Menschen solidarischer?

Wenn ich zum Metzger gehe, lasse ich manchmal ein bisschen Geld da. Das soll der Händler für Kunden benutzen, die nicht für den ganzen Einkauf zahlen können. In manchen Strassen stellten Familien Reis und Öl vor die Tür. Rohstoffe zu verteilen finde ich viel besser als schon gekochtes Essen – damit sind die Menschen selbstbestimmter.

Wie ist die Situation jetzt? 

Viele Menschen in Teheran arbeiten von der Hand in den Mund. Da bleibt keine andere Wahl, als vor die Tür zu gehen. Bei vielen geht am Morgen sonst das Licht im Schlafzimmer nicht mehr an oder das Essen fehlt abends auf dem Tisch. Im ärmeren Süden der Stadt fühlt man die Krise viel stärker als im Norden. Aber nicht, weil die Menschen zu Hause blieben, sondern weil die Strassen voll sind. Hier mussten die Menschen viel rascher wieder raus und zur Arbeit gehen. Dabei müssen wir Verantwortung in dieser Zeit übernehmen und für jene einstehen, die nicht über den Smogwolken wohnen. 

Was sollte man aus dieser Zeit mitnehmen? 

Erstens, wenn die Luft in Teheran jeden Tag so wäre, wie in der ersten Woche des Lockdowns, wäre es eine wunderbare Stadt zum leben.

Zweitens habe ich gelernt, das Leben auch drinnen zu genießen. Im Jetzt zu leben. Egal auf welcher Einkommensleiter wir stehen, am Ende sind wir alle verwundbar.

Drittens habe ich viel über soziale Medien nachgedacht, von denen hier so viele Menschen abhängen. Doch ein Bild auf Instagram kann kein Buch, kein Gemälde, kein Foto ersetzen. Im Iran informiert sich vor allem die junge Generation meist über Telegram oder Instagram. In Bildunterschriften. Stories. Muss man einen Text unter einem Bild aufklappen, wird das schon zu viel. Dabei erwachen wir selbst erst zum Leben, wenn wir Dinge anfassen können. Das ist schon bei Kindern so und hört bei Erwachsenen nicht auf.

Ich kann es nicht erwarten, einmal wieder in eine Galerie, ein Konzert, ein Restaurant mit Freunden zu gehen. Ohne Telefon.

Die Ausgangssperren wurden wieder etwas gelockert. Was war das erste, was viele zuallererst wieder erleben wollten?

Die halbe Stadt packte eine Decke ein, füllte Tee in Thermoskannen und ging in den Park. Ohne Picknick fühlen wir uns hier nur wie halbe Menschen. Das geht auch mit Abstand gut.

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Olón, Ecuador

Olón, Ecuador

Soekarno-Hatta International Airport, Indonesien

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